Unterdrückung indigener Kultur - Wie Kanada seine eigenen Kinder stahl
Bis in die 1990er-Jahre wurden Indianer in kanadischen Internaten ihrer Kindheit und Kultur beraubt. Kanada ist dieses Jahr Gastland an der Frankfurter Buchmesse – ein Anlass, um ein dunkles Kapitel der kanadischen Geschichte zu beleuchten.
«Wir mussten unser eigenes Erbrochenes essen», erzählt der etwa 70-jährige Edmund Metatawabin, der der Cree-Nation angehört. «Und wenn wir nicht gehorchten, wurden wir auf dem elektrischen Stuhl bestraft.»
Begriffe
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«Indianer» wird verwendet für kanadische Indigene, männlich und weiblich, die keine Inuit und Métis sind. «Indianer» ist zwar eine Fremdbezeichnung, aber in der deutschen Sprache weder negativ noch rassistisch aufgeladen.
Die «Cree» sind die grösste indianische Nation in Kanada. Circa 350’000 Menschen (Cree oder Cree-Vorfahren) gehören ihr an.
«First Nations» sind indianische Reservatsgemeinden.
Metatawabin ist ein Überlebender der sogenannten «Indian Residential Schools». In diesen Umerziehungs-Internaten wollte man die indianische Kultur endgültig auslöschen. Sie sind einer der Hauptgründe, weshalb die kulturelle Identität der Indianer im Norden Kanadas zerrüttet ist.
Kinder zwangsassimiliert
Gegründet wurden die «Indian Residential Schools» gegen Ende des 19. Jahrhunderts, finanziert vom Staat und geführt von Geistlichen.
Der Schweizer Autor und Historiker Manuel Menrath forscht an der Universität Luzern zum indianischen Nordamerika. «Nehmen Sie eine belebte Strasse in einem Familienquartier in der Schweiz. Und jetzt kommt die Polizei und sammelt alle Kinder ein. Genauso muss man sich das in den Indianersiedlungen vorstellen», so Menrath.
Die Kinder wurden ihren Eltern entrissen, hunderte von Kilometern weit weggebracht, in westliche Kleidung gesteckt und durften ihre Sprache nicht mehr sprechen. Sie litten an grossem Heimweh. Gleichzeitig wurde ihnen eingeimpft, dass ihre Eltern primitiv seien.
Wenn sie ihre Familien dann einmal besuchen durften, hatten sie sich von den Eltern derart entfremdet, dass sie sie nur noch hassen oder verachten konnten. «Auf diese Weise wurde die indianische Gesellschaft, deren Herzstück die Grossfamilie ist, im Innersten zerrüttet,» sagt Manuel Menrath.
Schmerz wird über Generationen weitergegeben
Dieses Trauma vererbt sich von Generation zu Generation. Der spirituelle, körperliche, aber auch emotionale und sexuelle Missbrauch wirkt sich bis heute auf das Leben der kanadischen Indianer aus. Manuel Menrath hat für sein Buch «Unter dem Nordlicht – Indianer Kanadas erzählen von ihrem Land» über hundert Gespräche geführt.
Buchhinweis
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Manuel Menrath: «Unter dem Nordlicht. Indianer aus Kanada erzählen von ihrem Land», Galiani Berlin, 2020.
Unter anderem mit der 14-jährigen Kara. Sie sagt: «Meine Grossmutter war Schülerin an einer Residential School. Die Leute denken, wir tragen den Schmerz nicht mehr in uns. Die Leute denken, es beeinflusst uns nicht mehr. Ich bin jetzt die fünfte Generation und ich trage diesen Schmerz immer noch weiter.»
Audio
«Eisfuchs» von Tanya Tagaq
13:34 min, aus Kontext vom 25.03.2020.
Bild: imago images / PA Images / Robin Pope
abspielen. Laufzeit 13 Minuten 34 Sekunden.
Erschreckend viele Suizidversuche bei Teenagern
Auswirkungen der Residential Schools sind bis heute spürbar: Alkoholismus, Drogenkrankheit, häusliche Gewalt, Armut, Perspektivlosigkeit. Und Suizidversuche, die sich häufen – vor allem von jungen Leuten.
Zwischen September 2015 und April 2016 haben in Attawapiskat, im Norden Ontarios, gegen 100 Jugendliche versucht, sich das Leben zu nehmen.
Manuel Menrath erklärt: «Die Regierung gibt sich geschockt, lässt Sozialarbeiter einfliegen. Nach ein paar Wochen reisen diese wieder ab. Das gesellschaftliche Trauma und die Armutsfalle werden nicht an der Wurzel angegangen.»
Es gehe etwa um Häusernot. Für Kinder in einem kleinen Haus mit 16 Personen bleibe keine Privatsphäre. Dazu komme wahrscheinlich häusliche Gewalt.
«Das sind die Spätfolgen des Residential-School-Traumas. Diejenigen, die geschlagen wurden, schlagen dann vielleicht auch ihre Kinder wieder. Eine Spirale der Gewalt», so Menrath.
Geld bringt Kindheit nicht zurück
1990 erzählte Phil Fontaine, der spätere National Chief (Chief der «Assembly of First Nations»), öffentlich von seinen traumatischen Erlebnissen in einer Residential School. Von da an meldeten sich immer mehr Betroffene.
1996 wurde die letzte Residential School geschlossen. 2008 entschuldigte sich Premierminister Stephan Harper offiziell.
Bereits vorher war es zwischen dem kanadischen Staat und den etwa 86'000 noch lebenden ehemaligen Internatskindern zu einer Vereinbarung gekommen. Sie wurden finanziell entschädigt. Aber die gestohlene Kindheit konnte man ihnen nicht zurückgeben.
Geeinte Stimme für Indianer
Trotz aller Missstände: Die Indianer fügen sich nicht passiv in ihr Leiden. Die 49 First Nations im nördlichen Teil der Provinz Ontario sind zwar durch die mehrere hundert Kilometer lange Distanz zum dichter besiedelten Süden Kanadas geografisch immer noch völlig isoliert.
Aber seit sie sich zu einer politischen Organisation zusammengeschlossen haben, sind sie eine starke und geeinte Stimme gegenüber der kanadischen Regierung.
Auf Newsportalen und in Massenmedien, mit eigenen Anwältinnen, Sympathisanten und Abgeordneten in den Parlamenten. Edmund Metatawabins Sohn, Mike Metatawabin, sagt: «Unsere Kinder sollen ohne Angst aufwachsen können. Wir müssen ihnen Hoffnung mit auf den Weg geben.»
Zum Weiterlesen: Drei aktuelle indigene Romane aus Kanada
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Richard Wagamese: Das weite Herz des Landes
Der 16-jährige Ojibwe Frank wächst bei einem weissen Vormund auf einer Farm auf. Seine Mutter hat er nie kennengelernt, sein Vater Eldon, ein Alkoholiker, kümmert sich nicht um ihn. Bis jetzt. Denn auf einmal ruft der Kriegsveteran ihn zu sich in die Stadt. Eldon ist sterbenskrank – und hat einen letzten Wunsch: Frank soll ihn auf einem abgelegenen Bergkamm bestatten, nach der Art indianischer Krieger. Im Gegenzug will er dem Jungen ein Geheimnis anvertrauen.
Je tiefer die beiden in die Wildnis eindringen, desto tiefer wühlt Eldon in der eigenen Vergangenheit – und beginnt zu erzählen: Von einer Kindheit in bitterer Armut und davon, wie er sich als Tagelöhner durchschlug und im Koreakrieg traumatisiert wurde. Wie er sich ins Trinken flüchtete und die Liebe seines Lebens verlor. Erst durch die gemeinsame Reise findet Eldon Vergebung, während Frank seine Wurzeln kennenlernt.
Eine berührende Vater-Sohn-Erzählung über die heilende Kraft von Geschichten. Wagamese brilliert mit lakonischen Dialogen und sinnlichen Naturbeschreibungen.
Richard Wagamese: Das weite Herz des Landes. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Blessing 2020.
Joshua Whitehead: Johnny Appleseed
Ein Apfel sei er, beschimpft ihn sein Stiefvater: aussen rot und innen weiss. Denn Johnny liebt andere Männer. Heimlich schaut er die TV-Serie «Queer as Folk» über fünf homosexuelle Männer, kann sich aber nicht mit den Charakteren identifizieren. Denn sie haben «keinen Schimmer, was es heisst, ein brauner schwuler Junge im Reservat zu sein.» Johnny wird ausgegrenzt und misshandelt. Nur seine Kokum, seine Grossmutter, unterstützt ihn. Kein Wunder, flieht der junge Cree nach Winnipeg.
In der Grossstadt ist das Leben zwar auch nicht einfach: Um über die Runden zu kommen, verdient Johnny sein Geld als Sexarbeiter. Bedient die Fantasien seiner weissen Kunden, die von Webcam-Sex mit einem «echten Indianer» fantasieren. Gleichzeitig findet Johnny zu einer selbstbewussten Identität: Er erkennt, dass er ein «Two-Spirit» ist, also weder männlich noch weiblich. Diese Geschlechtsidentität war bei den indigenen Völkern Kanadas vor der Kolonialisierung breit akzeptiert.
Der bittersüsse Debütroman wurde in Kanada zurecht gefeiert. Joshua Whitehead, Oji-Cree aus Manitoba, räumt mit Vorurteilen auf und zeigt einen Alltag, der den meisten fremd sein dürfte.
Joshua Whitehead: Johnny Appleseed. Aus dem Englischen von Andreas Diesel, Albino Verlag 2020.
Louis-Karl Picard-Sioui: Der grosse Absturz. Stories aus Kitchike
Auch die Satire des Frankokanadiers Picard-Sioui könnte von Indianerromantik nicht weiter entfernt sein. Anhand eines Reigens an Figuren schildert der Autor das Leben in der fiktiven Kleinstadt Kitchike. Erzählt etwa vom spindeldürren Noé, der bei einem Wettlauf betrügt, um dem korrupten Reservatchef eins auszuwischen. Von der Tankstellenangestellten Lydia, die genug von den Alkoholikern hat, die ihr auf die Brüste starren. Oder dem lokalen Missionar, der mit den Sieben Plagen droht, weil seine Heiligenstatue verschwunden ist.
Zuweilen wird es fantastisch: Der Schneeschuhhersteller Jean-Paul wird von schwarzen Löchern verfolgt, und bei einem Konzert lauscht eine indigene Göttin mit. Dabei hat jede Figur eine eigene Stimme: mal derb, mal zart, immer sarkastisch.
Picard-Sioui kennt die Probleme der Reservate: Der Angehörige der Huron-Nation lebt selbst in einem. Trotzdem behandelt er das schwierige Thema leichtfüssig und mit einem Augenzwinkern Sein rotzig geschriebener Erzählband spielt mit Klischees und entwirft eine moderne indigene Identität.
Louis-Karl Picard-Sioui: Der große Absturz. Stories aus Kitchike. Aus dem Französischen von Sonja Finck und Frank Heibert, Secession Verlag 2020.
Ausgewählt von Florian Oegerli.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 13.10.2020 17:58 Uhr
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