Donald Trump steht vor der St. John’s Church in Washington, die Bibel in der Hand. Den Weg zur Kirche mussten ihm Polizeikräfte unter Einsatz von Tränengas freimachen.
Es ist Frühsommer 2020 – Höhepunkt der «Black Lives Matter»-Proteste. Der Auftritt von Donald Trump war sorgfältig vorbereitet, inszeniert – und voller Symbolik.
Trump und die Bedrohung des Christentums
Zuvor hatte der Präsident die Demonstranten als «professionelle Anarchisten» bezeichnet. Er hatte vom Terror auf den Strassen gesprochen und die Proteste «ein Verbrechen gegen Gott» genannt. Adressatinnen und Adressaten dieser Rede und des Auftritts mit der Bibel waren evangelikale Wählerinnen und Wähler.
«Donald Trump sprach damit all jene an, die das Christentum bedroht sehen», erklärt Jan Rehmann, Gastprofessor für Kritische Theorie und Soziale Analyse in New York. «Bedroht von der modernen Welt, vom Säkularismus, von Bewegungen, die sich gegen den Nationalismus wenden.»
Der Beschützer ohne Bibelkenntnisse
Die Evangelikalen sähen Donald Trump als einen starken Beschützer ihrer Glaubensinhalte und ihrer Stellung in der Gesellschaft. «Auftritte wie jener mit der Bibel in Washington kommen an», analysiert Jan Rehmann.
Über 80 Prozent der weissen Evangelikalen wählten 2016 Donald Trump. So viel Zustimmung hatte noch kein Präsident zuvor von ihnen erhalten – nicht einmal George W. Bush, der selbst ein bekennender Evangelikaler war.
Ich glaube, Trump hat keine Kenntnisse von der Bibel.
Neueste Umfragen von US-Meinungsforschungsinstituten wie «Pew» oder «Lifeway» zeigen, dass eine grosse Mehrheit der weissen Evangelikalen Trump erneut wählen will.
Fromme Christinnen und Christen, die ein moralisch einwandfreies Leben führen wollen und eine strenge Sexualmoral verfolgen, wählen also einen Mann, der seine Frau mit einem Pornosternchen betrogen haben soll.
Einen Mann, der immer wieder durch frauenfeindliche Sprüche wie «grab them by the pussy» und anderen Beleidigungen auffällt. Einen Mann, der, so glaubt Religionssoziologe Philip Gorski, «keine Kenntnisse von der Bibel hat». Wie kommt das?
Unterstützung aus Überzeugung?
«Es gibt unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eine Diskussion, ob die Evangelikalen Trump aus pragmatischen Gründen und mit Bauchschmerzen unterstützen – oder ob sie es aus tiefer Überzeugung tun», so Gesellschaftsanalytiker Jan Rehmann.
Zur ersten Gruppe gehört wohl Matthew Floyd, Pastor der Calvary Baptist Church: «Ich wünschte mir manchmal, er würde mehr wie ein Evangelikaler sprechen. Also weniger fluchen und auf hetzerische Aussagen verzichten», sagte er in einem Beitrag der SRF-Sendung «10 vor 10». «Aber er hat mehr Gutes für uns getan, als irgendjemand anderes tun würde.»
Gegen Abtreibung, für Evangelikale
Im Zentrum steht dabei der Kampf gegen Abtreibung: Donald Trump setzt sich gegen die liberale Abtreibungspolitik in den USA ein. Er hat konservative Richter ins Bundesgericht berufen und konservativen Christen Posten in seiner Regierung verschafft – seinem Vizepräsidenten Mike Pence zum Beispiel.
Damit sichert sich Donald Trump also die Unterstützung der Evangelikalen. Auch solcher, die mit seinem Lebenswandel ihre Mühe haben.
Donald Trump – der gottgesandte Erlöser?
Doch es gibt auch die überzeugten Trump-Fans unter den Evangelikalen. Eine von ihnen ist Patricia Ezidiegwu, evangelikale Christin aus Las Vegas: «Ich glaube, Gott hat ihn zum Präsidenten berufen, um die Nation zurück zu Christus zu führen.»
Viele seiner evangelikalen Fans sehen Donald Trump als eine Art Erlöser. «Die Evangelikalen betrachten das Weltgeschehen durch eine biblische Brille. Als Kampf zwischen Gut und Böse, geprägt von der Offenbarung des Johannes», erklärt Religionssoziologe Philip Gorski.
Daraus entstehe der Wunsch nach einem weltlichen Erlöser. Als Donald Trump vor vier Jahren die Wahl gewonnen habe, sei er von vielen evangelikalen Predigern eben zu diesem Erlöser erkoren worden.
Die Bedrohung der Christen
Laut Religionssoziologe Philip Gorski gibt es unter den Evangelikalen zwei Gruppen: die Nationalkonservativen und die christlichen Nationalisten. Besonders letztere sehen die USA als weisse christliche Nation in Gefahr.
Für weisse Evangelikale zählen Christinnen und Christen zur meist verfolgten Gruppierung in den USA.
Der Wunsch nach einem Erlöser, nach einem starken Mann, geht also einher mit einem Gefühl der Bedrohung: «Für weisse Evangelikale zählen Christinnen und Christen zur meist verfolgten Gruppierung in den USA», sagt Philip Gorski.
Zwar gehören noch immer drei Viertel aller Menschen in den USA einer Religion an. Nicht-christliche Religionen wie das Judentum, der Islam, der Hinduismus oder der Buddhismus bewegen sich in einem kleinen Prozentbereich. Doch immerhin ein Viertel der US-Bevölkerung bezeichnet sich als nicht-religiös. Tendenz steigend.
Moralische Bedenken werden über Bord geworfen
Das verunsichert die christlichen Nationalisten. Und Donald Trump spricht sie und ihre Sorgen gezielt an. So wie in einer Rede im Vorwahlkampf 2016, erzählt Gesellschaftsanalytiker Jan Rehmann: «Damals sagte er: Die Christen hätten zwar die grosse Mehrheit im Land, aber nicht die Macht, die sie haben sollten.» Trump habe versprochen, wenn er Präsident werde, würde er dafür sorgen, dass das Christentum an die Macht komme.
«Dieses Versprechen hatte eine stärkere Wirkung als die moralischen Bedenken gegenüber dem egomanischen und mehrfach geschiedenen Macho», fasst Jan Rehmann zusammen.
Die ‹Black Lives Matter›-Proteste haben bei vielen jungen Evangelikalen einen ernsthaften Reflexionsprozess angestossen.
Gegenwind aus evangelikalen Kreisen
Doch gerade in letzter Zeit gab es auch Kritik von Evangelikalen. Die renommierte evangelikale Zeitung «Christianity Today» forderte im Februar etwa, dass Donald Trump als Präsident abgesetzt werden soll.
Hintergrund war das Amtsenthebungsverfahren gegen Donald Trump. Chefredaktor Mark Galli schrieb in seinem Leitartikel, Trumps Verhalten sei grundlegend unmoralisch. Zudem sei sein Twitter-Feed «ein fast perfektes Beispiel eines Menschen, der moralisch verloren und verwirrt ist».
Die Reaktionen darauf waren heftig: «Ich wurde in einigen Leserbriefen als Satanist bezeichnet.» Doch der ehemalige evangelikale Pastor ist überzeugt: «Die Präsidentschaft Trumps ist ein Desaster für die evangelikale Religion und die positive Botschaft des Evangeliums.» Die Evangelikalen müssten dagegen Stellung beziehen.
Auch Philip Gorski glaubt, dass in den bevorstehenden Wahlen weniger Evangelikale Donald Trump wählen werden – wegen seines Verhaltens und wegen seines offenkundigen Rassismus. «Die ‹Black Lives Matter›-Proteste haben bei vielen jungen Evangelikalen einen ernsthaften Reflexionsprozess über das Verhältnis des Christentums zu Sklaverei und Rassismus in der amerikanischen Geschichte angestossen.»
Trotz des verstärkten Gegenwindes dürfte Donald Trump die grosse Mehrheit der Stimmen aus evangelikalen Kreisen erhalten. Doch was ist mit dem demokratischen Präsidentschaftskandidaten Joe Biden?
Joe Biden, Vertreter eines liberaleren Christentums
Biden ist bekennender Katholik. Er bewundert Papst Franziskus wegen seines Einsatzes für soziale Gerechtigkeit und für die Bewahrung der Schöpfung. Seine persönliche Biografie könnte liberale Christinnen und Christen ansprechen, glaubt Jan Rehmann: «Joe Biden hat viel Leid erfahren. Seine erste Frau und seine Tochter sind früh gestorben, später auch ein Sohn. Ein anderer war drogenabhängig. Über all das spricht er offen. Das gibt ihm Glaubwürdigkeit.»
Kurzum: Joe Biden präsentiert sich als Vertreter eines offenen, liberalen Christentums – und präsentiert sich auch als Option für nicht-religiöse Wählerinnen und Wähler.
Die komplizierten Katholikinnen
Und die Katholikinnen und Katholiken, die gewissen Statistiken zufolge immerhin die grösste religiöse Gruppierung der USA darstellen? Ihr Wahlverhalten zu bestimmen sei kompliziert, betont Jan Rehmann: «Der Katholizismus ist trotz der Einheit der Kirche keine einheitliche Gruppe.»
Wir bestehen aus vielen verschiedenen Identitäten, die alle das Wahlverhalten beeinflussen.
Weisse Katholikinnen und Katholiken wählen anders als Menschen mit lateinamerikanischen Wurzeln. Die Kubanerinnen in Florida anders als die Einwanderer aus Mittelamerika. «Das zeigt, dass ein Mensch eben kein unteilbares Wesen ist. Wir bestehen aus vielen verschiedenen Identitäten, die alle das Wahlverhalten beeinflussen», erklärt Jan Rehmann.
Für viele konservative Katholikinnen und Katholiken etwa ist das Thema Abtreibung zentral – und Joe Biden zu liberal. Andere stellen die soziale Ethik ins Zentrum, was für Joe Biden sprechen würde. Von den Wählerinnen und Wählern mit Wurzeln in Lateinamerika wiederum wollen laut Umfragen zwei Drittel für Joe Biden stimmen – trotz liberaler Abtreibungspolitik.
Weshalb Religion omnipräsent ist in der US-Politik
Die Beispiele Donald Trump und Joe Biden zeigen, dass die religiöse Zugehörigkeit beim Wahlverhalten durchaus eine Rolle spielen kann – aber eben nur ein Faktor von vielen ist.
Viele der frühen Einwanderer aus Europa waren in ihren Heimatländern verarmt und religiös unterdrückt.
Warum aber hat die Religion in der US-Politik überhaupt eine so grosse Bedeutung? Warum sagt jeder Präsident am Ende seiner Rede «And God bless the United States of America», obwohl Religion und Staat offiziell getrennt sind?
Das gelobte Land
Jan Rehmann sieht einen engen Zusammenhang mit der Geschichte der USA: «Viele der frühen Einwanderer aus Europa waren in ihren Heimatländern verarmt und religiös unterdrückt.» Amerika erschien ihnen als gelobtes Land und die Trennung von Staat und Religion gab den verschiedenen religiösen Gemeinschaften die Möglichkeit, sich zu entfalten.
Der säkulare Staat führte also zu mehr Religion. «Der junge Karl Marx nannte die USA das Land der lebensfrischen und lebenskräftigen Religion», erzählt Jan Rehmann.
Religiöse Gemeinschaften: Labore der Demokratie
«Ausserdem waren gerade die protestantischen Gemeinschaften demokratisch organisiert», ergänzt Religionssoziologe Philip Gorski. Laien seien für die Finanzen zuständig gewesen und stellten die Pastoren an.
Der berühmte französische Publizist und Historiker Alexis de Tocqueville bezeichnete die religiösen Glaubensgemeinschaften im 19. Jahrhundert als «Schulen der Demokratie».
«Heute muss jeder Politiker Gott beschwören»
Religion und Politik waren also in den USA seit jeher eng verknüpft. «Heute muss jeder Politiker und jede Politikerin auf eine Art und Weise Gott beschwören», sagt Jan Rehmann. Und dies so allgemein, dass möglichst viele verschiedene Religionen und Konfessionen sich identifizieren können.
«God bless America» ist also auch in diesem Wahlkampf allgegenwärtig. Der Auftritt Donald Trumps im Zuge der «Black Lives Matter»-Proteste, mit der Bibel in der Hand, die er vielleicht gar nicht gelesen hat, zeigt, dass religiöse Symbolik ein wichtiges Element des Wahlkampfs des Präsidenten ist. Wie viel Gewicht sie wirklich hat, wird sich bei den Wahlen am 3. November zeigen.