Ein «Coitus interruptus», der schiefläuft: Bruce Springsteen besingt ihn in seinem Song «Spare Parts». «Bobby said he’d pull out / Bobby stayed in.» Man kennt das auch als «Rauszieh-Methode». Nur eben: Bobby hat's nicht gemacht – und schon war Jane schwanger.
Euer Sperma, eure Verantwortung!
Riskieren Männer für fünf Sekunden «mehr Spass» beim Sex, dass sie Frauen schwängern könnten? Öfter als uns lieb ist, sagt die US-amerikanische Autorin Gabrielle Blair.
Gemäss Blair läuft in unserer Gesellschaft in Sachen Verhütung so einiges falsch. Mann und Frau gehen davon aus, dass sie hauptsächlich Frauensache sei. Deswegen legt sie ein Buch – eigentlich ein Manifest – vor, mit dem sie uns zum Umdenken bringen will. «Verantwortungsvoll ejakulieren. 28 Gründe, warum Verhütung Männersache werden muss».
Sie nimmt vor allem den Mann in die Verantwortung: «Wenn ihr niemanden schwängern wollt, packt das Sperma gefälligst woanders hin – in ein Kondom, in ein Taschentuch, in die Hand. Himmel, sogar in eine Pflanze, wenn ihr wollt», sagt Blair im Interview. Kurz: Männer – euer Orgasmus, euer Sperma, eure Verantwortung!
Kein Männer-Bashing
Sie sei keine Männerhasserin, wie ihr einige unterstellten. «Alle können so viel Sex haben, wie sie wollen.» Sie wolle Männer mehr in die Pflicht nehmen, weil sie sie respektiere.
Es ist nicht zu viel verlangt, dass Männer aufhören, ihre Spermien gedankenlos in der Vagina der Sexualpartnerin zu platzieren.
Gabrielle Blair wirkt amerikanisch. Sie redet viel und gibt schnell viel von sich preis. Dass sie so betont unaufgeregt mit Argumenten zu Sperma-Platzierung, Vagina-Enge und Promiskuität-Klischees jongliert, ist eher erstaunlich, wenn man einen Blick in ihre Biografie wirft.
Blair ist in einer konservativen Kleinstadt in Utah aufgewachsen. Wer die amerikanische Geografie kennt, weiss, Utah ist das Hauptquartier der Mormonen. Zu ihnen zählt auch die Familie von Gabrielle Blair.
Mormonen und ihr starrer Kurs
Offiziell sollte man die Glaubensgemeinschaft nicht mehr Mormonen nennen, sondern «Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage». Gabrielle Blair tut es trotzdem. «Es ist am einfachsten», sagt sie. Das ist bezeichnend für die Autorin. Sie macht das, was sie selbst für richtig hält, ungeachtet der möglichen Kontroversen.
Schon lange bemüht sich die Gemeinschaft darum, das Sekten-Image loszuwerden. Gelingen will es nicht, was auch an den strengen Alltagsregeln liegt: kein Alkohol, kein Tabak, kein Koffein, kein Fluchen, kein Sex vor der Ehe, keine schulterfreien Kleider.
Die Familie spielt eine zentrale Rolle, das Geschlechterbild ist klar: Die Frau versorgt die Kinder, der Mann verdient das Geld. Homosexualität ist verpönt.
Metamorphose der Vorzeige-Mormonin
Sexuelle Aufklärung in diesem Umfeld? Fehlanzeige. «Ich war eines von acht Kindern. Ich weiss nicht, ob meine Mom es vergessen hatte oder ob sie dachte, dass ich es sonst wo lernen würde. Niemand sagte mir, wie Sex funktioniert», erinnert sich Gabrielle Blair. Getreu dem Prinzip: Was ich nicht weiss, macht mich nicht heiss.
So datete Blair zwar viel. Sie knutschte rum. Aber dabei blieb es. Das erste Mal Sex hatte sie mit ihrem Mann, den sie am College kennenlernte und mit 21 Jahren heiratete. Bald kam das erste von sechs Kindern.
Die Pille ist eine der grössten Erfindungen, ich bin dankbar dafür. Sie ist aber auch brutal. Die Nebenwirkungen sind für viele Frauen schädlich.
Wer jetzt denkt, «Will mich eine sechsfache Mutter ernsthaft zu einem neuen Umgang mit Verhütung anhalten?», soll kurz innehalten. Zum einen: Gabrielle Blair wollte das so. Die Grossfamilie, ihr Traum.
Zum anderen hat Blair jegliche Art von hormoneller Verhütung ausprobiert. Und wie viele Frauen immer wieder damit gehadert. Sie hat sich jahrelang ins Thema eingelesen, Studien durchgeackert, Interviews geführt. Trotz fehlender Aufklärung, weiss sie, wovon sie spricht.
Trotzdem drängt sich die Frage auf, wie aus dieser Vorzeige-Mormonin die lautstarke Feministin, die ein Verhütungs-Buch schreibt, wurde?
Privat gab es nicht den einen Wendepunkt. Sie habe sich schon immer gewehrt, wenn ihr etwas nicht passte. Ihre Mutter sei zwar eingefleischte Republikanerin, aber viele ihrer Geschwister wandten sich vom Glauben ab, wurden progressiv, liberal. Mit ihrer eigenen Familie hat sie schon in den USA, Griechenland und Frankreich gelebt. Weltoffenheit: check.
Daraus machte die studierte Grafikdesignerin anfänglich eine Karriere. Sie bloggte über die Umzüge, die Renovationen in den neuen Häusern. Ihr Blog Design Mom verschaffte ihr eine gewaltige Reichweite. Sie sei damals schon eine Feministin gewesen. Nur das Vokabular fehlte noch.
Der Tweet, der alles änderte
Als Bloggerin platzte ihr 2018 der Kragen. «Ich war frustriert wegen der Diskussionen über Frauen und deren Körper – meist geführt von Männern – und wie den Frauen die Schuld für ungewollte Schwangerschaft zugeschoben wurde.»
Blair war der Meinung, man müsse Abtreibung nicht verbieten. Man muss bei den ungewollten Schwangerschaften ansetzen. Ergo: dem Ejakulieren. Es folgten die Anhörungen von Brett Kavanaugh, der als Richter für den Obersten Gerichtshof nominiert wurde, und dem sexueller Missbrauch vorgeworfen wurde. Das reichte Blair.
Sie schrieb einen 63-seitigen X-Thread. Der Tweet ging viral und wird bis heute geteilt. Er ist die Grundlage für ihr nun auf Deutsch erschienenes Buch, das in den USA bereits ein Bestseller ist.
Männer haben Spass, Frauen die Arbeit
Was sollen wir Verhütungs-Banausen also mit Blairs Buch begreifen? Zunächst geht es ihr um Biologie. Männer sind ständig fruchtbar, Frauen nur einmal im Monat für ein 24-stündiges Zeitfenster, auch wenn Spermien bis zu fünf Tage im Körper der Frau überleben. Ejakulieren ist kontrollierbar. Der Eisprung nicht – und ausserdem schwer vorherzusagen.
Indem Frauen täglich eine Pille schlucken oder sich schmerzhaft eine Spirale einsetzen lassen, steuern sie nicht wirklich ihre eigene Fruchtbarkeit – sondern managen die permanente Fruchtbarkeit der Männer. Männer könnten jedes Mal, wenn sie Sex haben, eine Schwangerschaft verursachen. Unsinnig, dass wir uns gesellschaftlich auf den Eisprung fixieren.
Jede ungewollte Schwangerschaft wurde von einem Mann verursacht.
Dann nimmt sie das gute alte Patriarchat ins Visier. Ihr Credo: In unserer patriarchalen Gesellschaft wird die Maximierung des Genusses für Männer der Minimierung des Schmerzes für Frauen vorgezogen. Gabrielle Blair erzählt vom gescheiterten Versuch der Pille für den Mann: zu viele Nebenwirkungen.
Sie erzählt vom Viagra, das auch gegen Menstruationsbeschwerden hilft, bekanntlich aber für schlaffe Penisse verwendet wird. Sie erzählt, dass nur neun Prozent der Männer sich einer Vasektomie unterziehen, obwohl diese weniger invasiv ist als eine Sterilisation der Frau.
Kondome sind cool
Ja, Frauen sind es, die schwanger werden. Aber deshalb sollten sie nicht allein für die Verhütung zuständig sein. Vor allem, wenn es eine preiswerte und einfache Verhütungsmethode für Männer gibt: das Kondom. Dessen unbegründet schlechten Ruf will Blair beseitigt sehen.
Und zu guter Letzt will die praktizierende Mormonin mit der Moral aufräumen. Auf X (damals Twitter) schrieb sie: «Eine Frau kann die ‹nuttigste Schlampe› der Welt sein, die den ganzen Tag und die ganze Nacht lang Orgasmen hat. Sie wird niemals ungewollt schwanger werden. Es sei denn, ein Mann taucht auf und ejakuliert unverantwortlich.»
Sex ist Verantwortung
Gabrielle Blair hält nichts vom Label «Schlampe». Das ist eine Provokation. Gegen moralisierende, religiöse Stimmen in den USA, die weibliche Lust verteufeln. Für Blair ist Sex nicht moralisch aufgeladen. Blair will den Fokus aufs Sperma, auf die Männer und auf deren Körper legen. Und damit tritt sie eine Debatte los, wie Sex und Verantwortung zusammengehören. «Für mich ist Sex etwas sehr Positives in meinem Leben. Das wünsche ich mir auch für andere», resümiert Blair.
Liebe und Sex als etwas Heilendes – auch das besingt Bruce Springsteen. In «Leap of Faith» zelebriert ein Mann die Beine seiner Frau als «den Himmel», ihr Körper als «das Heilige Land». Der himmlische Eiaculatio – natürlich fehlt auch der nicht: «Now you were the Red Sea, I was Moses. I kissed you and slipped into a bed of roses. The waters parted and love rushed inside.»
Bleibt zu hoffen, dass der Neuzeit-Moses Kondome dabei hatte.