Es war ein politisches Erdbeben vor ziemlich genau einem Jahr: Damals hat das höchste Gericht in den USA – der Supreme Court – das landesweite Recht auf Abtreibung aufgehoben. Seither kann jeder Bundesstaat selber entscheiden, ob und wie stark er das Recht auf Abtreibung einschränken will. Was hat sich seither getan? Antworten von SRF-USA-Korrespondent Andrea Christen.
Wie wirkt sich dieser Entscheid aus – ein Jahr danach?
Es ist ein unübersichtlicher rechtlicher Flickenteppich entstanden, weil jeder der 50 Bundesstaaten selbst entscheiden kann, ob Abtreibungen erlaubt sein sollen oder nicht. In 14 Bundesstaaten, wo die Republikaner den Ton angeben, sind Gesetze in Kraft, die Abtreibungen so gut wie ganz verbieten. Andererseits haben liberalere Bundesstaaten das Recht auf Abtreibung sogar noch gestärkt. In Illinois etwa sind Abtreibungen bis zum Zeitpunkt erlaubt, da ein Fötus ausserhalb der Gebärmutter lebensfähig ist, also bis ungefähr zur 24. Schwangerschaftswoche. Und die Krankenversicherungen müssen für die Schwangerschaftsabbrüche aufkommen.
Wie hat sich die Situation für Frauen verändert?
Wenn sie in einem Bundesstaat leben, wo Abtreibungen verboten sind, bringen Frauen Kinder zur Welt, die sie nicht wollen und sich vielleicht finanziell auch nicht leisten können. Vielleicht treiben sie sogar illegal ab. Sie können versuchen, an Abtreibungspillen zu kommen, oder sie fahren in einen anderen Bundesstaat, wo Abtreibungen legal sind.
Im Süden der USA sind Schwangerschaftsabbrüche inzwischen in einem grossen Gebiet verboten. Dazu gehört auch der nach Bevölkerung zweitgrösste US-Bundesstaat, Texas. In anderen Staaten, etwa in Illinois, hat die Anzahl der Abtreibungen dagegen sprunghaft zugenommen. Viele Frauen treiben also offenbar nicht dort ab, wo sie wohnen, sondern in einem Bundesstaat, in dem das noch legal ist. Aber das ist aufwendig, kostet Nerven und auch Geld.
Wo steht der Kampf um die Abtreibung in den USA?
Er ist noch lange nicht vorbei, so viel ist sicher. Mehr als die Hälfte der Abtreibungen wird medikamentös vorgenommen. Abtreibungsgegner wollen landesweit das Abtreibungsmedikament Mifepriston verbieten lassen. Dieser Fall nimmt aktuell den Weg durch die Bundesgerichte und wird dann wohl zu einem weiteren Fall für das Oberste Gericht. Falls die Richterinnen und Richter dieses Medikament verbieten würden, wäre das ein Erdbeben, genauso wie der Entscheid vor einem Jahr ein Erdbeben war.
Wie sehr ist das Thema Abtreibung in der politischen Debatte noch präsent?
Sehr präsent. Das Oberste Gericht hat den Frauen in den USA nach rund 50 Jahren ein Recht weggenommen; das wirkt nach. Für die Republikaner, besonders für christlich-konservative, war das ein Sieg. Die Demokraten haben nicht die Mehrheiten, um das Recht auf Abtreibung in ein landesweites Gesetz zu schreiben. Aber es verdichtet sich mehr und mehr, dass die Demokraten mit dem Abtreibungsthema punkten können.
Im letzten Herbst haben sie damit stark Wahlkampf betrieben und bei den Kongresswahlen deutlich besser abgeschnitten, als man ihnen zugetraut hatte. Es fällt auf, dass sich auf der anderen Seite gewisse Republikaner bei dem Thema winden und versuchen, es ganz zu meiden. Das passt auch zu den Umfragen: Eine deutliche Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner will ein gewisses Recht auf Abtreibung. Es ist gut möglich, dass die Republikaner mit diesen teils sehr drakonischen Abtreibungsverboten den Bogen überspannt haben.