Die Geschichte von Jan Berdnik beginnt hinter dem Eisernen Vorhang, in der kommunistischen Tschechoslowakei. Er erzählt sie gegenüber SRF zum ersten Mal. Es ist die Fluchtgeschichte eines jungen Mannes und die Geschichte von vermeintlicher Spionage-Abwehr, bei der die Schweiz alle Register zieht.
«Allgemeine verdächtige Wahrnehmungen», lautet der Titel von Ermittlungsakten, die heute im Berner Bundesarchiv liegen. Zugang: eingeschränkt. Das Ziel der Behörden war es, zu verhindern, dass die Schweiz von Kommunisten unterwandert wird, die sich unter die Flüchtlinge mischten.
Da wurden Fährten verfolgt, die sich als unergiebig erwiesen haben und Leute observiert, die völlig harmlos waren.
Vordergründig wurden sogenannte Systemflüchtlinge aus dem kommunistischen Ostblock zwar mit offenen Armen empfangen. Hinter ihrem Rücken wurden die Betroffenen aber oft peinlich genau durchleuchtet – auch Jan Berdnik.
«Man hat mit Kanonen auf Spatzen geschossen»
«Nachträglich habe ich herausgefunden, dass mein Telefon abgehört wurde», sagt der heutige Pensionär Jan Berdnik, der in den 1970er-Jahren in die Schweiz kam. Die Ermittlungen gegen ihn wurden später ergebnislos eingestellt. Für den Historiker und Buchautor Thomas Buomberger kein Einzelfall: «Man weiss aus sehr vielen anderen Fällen, dass der Staatsschutz mit Kanonen auf Spatzen geschossen hat.» Vielfach seien Menschen während Jahren überwacht worden, ehe sich am Ende ein «Null-Resultat» gezeigt habe.
Die Geschichte von Jan Berdnik ist also kein Einzelfall. Sie zeigt die tiefe Zerrissenheit, mit der die Schweiz zu kämpfen hatte. Buomberger spricht von einem Dilemma zwischen Willkommenskultur und Kommunismus-Paranoia. Und er bezeichnet das Vorgehen der Behörden im Kalten Krieg als «notorisch schludrig». «Da wurden Fährten verfolgt, die sich als unergiebig erwiesen haben und Leute observiert, die völlig harmlos waren», so Buomberger.
Als die sowjetischen Panzer nach Prag rollten
1968 spriessen in der kommunistischen Tschechoslowakei liberale Ideen. Alexander Dubček verfolgt als Vorsitzender der Kommunistischen Partei einen Reformkurs. Er sucht den «Sozialismus mit menschlichem Antlitz».
Das Zentrum der Demokratiebewegung ist die Hauptstadt Prag. Jan Berdnik ist als Student mittendrin. «Ich habe 1968 als Student nach dem zweiten Semester miterlebt, mitsamt Studentenstreiks und Uni-Besetzungen», sagt der heute 76-Jährige. Und Berdnik fragt sich damals, ob in der Tschechoslowakei ein freies Leben überhaupt möglich ist.
Die Antwort erhält er am 21. August. In Prag marschieren Truppen des Warschauer Pakts ein, anstelle von Gross-Demonstrationen rollen jetzt sowjetische Panzer. Und für Jan Berdnik ist rasch klar: Er will raus. Aus der Tschechoslowakei, aus dem Ostblock. Sein Glück woanders versuchen. Weil er zum Militärdienst eingezogen wird, gelingt ihm die Flucht aber erst Jahre später.
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Bild 1 von 5. Sowjetische Panzer sind am 21. August 1968 in Prag von Menschenmengen umgeben, die gegen die Invasion protestieren. Bildquelle: IMAGO/CTK Photo.
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Bild 2 von 5. Sowjetische Panzer wurden von Protestierenden in Brand gesetzt. Bildquelle: IMAGO/CTK Photo.
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Bild 3 von 5. Kellnerinnen aus einem Café im Zentrum von Prag versuchten, mit Lärm von Tassen und Tabletts die Panzer zu vertreiben. Bildquelle: IMAGO/CTK Photo.
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Bild 4 von 5. Zivilistinnen und Zivilisten protestieren mit der Nationalflagge der Tschechoslowakei. Das Banner auf dem Lastwagen trägt auf Russisch die Aufschrift «Geht nach Hause». Bildquelle: IMAGO/CTK Photo.
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Bild 5 von 5. Der Aufruhr hinterlässt seine Spuren: Nicht nur zerschossene Fenster, sondern auch zahlreiche Tote und Verletzte fordert der Einmarsch 1968. Bildquelle: IMAGO/CTK Photo.
Über Umwege kommt Jan Berdnik zunächst nach Österreich. Dann findet der Informatik-Spezialist in St. Gallen eine Stelle, «bei der Helvetia-Feuerversicherung im rosaroten Gebäude», wie er heute sagt. Die Programmiersprache PL1 ist genau jene Sprache, in der er in Prag ausgebildet wurde. Die Fachleute aus dem Osten gelten als gut qualifiziert. Informatik ist das Metier der Zukunft.
Geflüchtete stossen auf geöffnete Türen – vorerst
Die Schweiz will sich offen zeigen: «Menschen aus kommunistischen Ländern waren in der Schweiz willkommen», sagt der Historiker Thomas Buomberger. Man habe aus ideologischen Gründen «die Arme und die Türen sehr weit aufgemacht».
Die Schweiz sei klar im westlichen Lager zu verorten gewesen. Und als Systemkonkurrent habe man die Feinde des Kommunismus empfangen wollen, so Buomberger. Jan Berdnik bestätigt das aus eigener Erfahrung: «Sicherlich habe ich mehrheitlich offene Arme erlebt», sagt er.
«Aber manchmal habe ich auch das Gefühl gehabt, dass die Menschen dasselbe spürten, wie ich jetzt auch spüre, wenn ich junge Immigranten um mich herum sehe»: Respekt und Skepsis vor dem Fremden aus dem Osten. «Es war nicht einfach», sagt Berdnik. Bei einem Austausch mit Menschen aus Syrien habe er festgestellt, dass er sich in ihren Geschichten wiederfinde. Im Fremdsein ähneln sich die Ankommenden.
Jahrelang überwacht
Um sich zu integrieren, sagt Berdnik, habe er in seinen ersten Ferien die halbe Schweiz bereist. «Ich habe jede zweite Seilbahn und alle Seen besucht», sagt er mit einem Lachen. Die Kollegen hätten ihm erklärt, er kenne die Schweiz nun besser als junge Erwachsene aus der Schweiz. «Das hat mir geschmeichelt.»
Schmeichelhafte Komplimente allerdings sind nur das eine. Es gibt auch jene, die sehr kritisch beäugen, was der Neu-Ankömmling so treibt. So viel Integrationswille, rasche Anpassung, da muss doch etwas faul sein. Berdnik selbst spricht von «unerwarteten Komplikationen». Das Sprechen über das Thema fällt ihm sichtlich schwer.
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Bild 1 von 3. Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei kommen im September 1968 in einem Lager in Buchs im Kanton St. Gallen an. Bildquelle: KEYSTONE/Str.
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Bild 2 von 3. Nach der Niederschlagung des «Prager Frühlings» durch Truppen des Warschauer Pakts verlassen sie das Land – mitunter in Richtung Schweiz. Bildquelle: KEYSTONE/Str.
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Bild 3 von 3. Die Schutzsuchenden werden im ganzen Land verteilt – hier eine Aufnahme vom 27. September 1968 in einem Jugendheim der Heilsarmee in Redlikon im Kanton Zürich. Bildquelle: KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV/Str.
Nach einigem Zögern erklärt er: «Es gab eine polizeiliche Untersuchung, mit der man mein Verhalten aufklären wollte». Seine Fiche, die heute im Bundesarchiv lagert, dokumentiert eine ausufernde vermeintliche Spionage-Abwehraktion, die zwar verdeckt hätte stattfinden sollen, von der Berdnik aber sagt, er sei ihr sehr schnell auf die Schliche gekommen.
«Ich habe gemerkt, dass es eine andere Tischordnung gibt als üblich – das habe ich dann mit dem Putzdienst besprochen und wir haben die Indizien klären können.» Was Jan Berdnik damals ahnt, liest er erst Jahre später in seiner Akte: Er wird jahrelang überwacht, polizeilich observiert.
Es herrschte eine Art Paranoia, man hat fast hinter jeder Ecke einen Kommunisten vermutet.
Die Methoden und vor allem das Ausmass erinnern dabei eher an jenes System, aus dem er zuvor geflüchtet war. Und gemessen am sehr überschaubaren Ergebnis ist das Engagement der Schweizer Ermittler durchaus eindrücklich.
Im Visier des Staatsschutzes
Grossen Aufwand treibt die Schweiz nicht nur im Fall von Jan Berdnik, wie der Historiker und Buchautor Thomas Buomberger sagt: «Es herrschte eine Art Paranoia, man hat fast hinter jeder Ecke einen Kommunisten vermutet.» Und wer als Kommunist abgestempelt wurde, der habe ausserhalb der Gesellschaft gestanden, so Buomberger.
Formal ist die Schweiz zwar neutral. Aber in den Köpfen tobt der Abwehrkampf. Eines der antikommunistischsten Länder überhaupt sei die Schweiz in den 70er- und 80er-Jahren gewesen, sagt Buomberger. Das habe auch der Bundesrat offen erklärt. Es habe daher wenig gebraucht, um ins Visier des Staatsschutzes zu geraten.
Die Schäden, die dieser teils völlig sinnlose Staatsschutz auf dem Boden des Anti-Kommunismus angerichtet hat, waren beträchtlich.
Die Schweiz ist also innerlich zerrissen: Die eine Hand umarmt die Flüchtlinge, die aus dem Osten ankommen. Die andere sucht in ihrem Gepäck schon nach Indizien für Spionage.
Erhebliche soziale Schäden
Über die Details der Ermittlungen gegen seine Person möchte Jan Berdnik auch heute – Jahrzehnte später – nicht reden. Ihm ist wichtig, im neuen Heimatland niemanden gegen sich aufzubringen. Auch wenn er inzwischen längst selbst Sankt Galler geworden ist.
Klar ist heute: Juristisch ergeben diese Ermittlungen nichts. Sozial hingegen seien sie spürbar gewesen: «Mein Freundeskreis wurde für mich ziemlich spürbar durchgeklopft.» Mehrere seiner Freundschaften seien so in die Brüche gegangen.
Auch Buomberger sagt: «Die Schäden, die dieser teils völlig sinnlose Staatsschutz auf dem Boden des Anti-Kommunismus angerichtet hat, waren beträchtlich.» Karrieren seien zerstört worden, Beobachtete hätten keine Wohnungen erhalten, seien sozial isoliert worden. Zu spüren bekamen das längst nicht nur Geflüchtete aus dem Ostblock.
700'000 Menschen in der Schweiz überwacht
Auch Schweizerinnen und Schweizer können damals leicht in Verdacht geraten, wenn sie zumindest gewisses Interesse für den System-Rivalen im Osten haben: Überwacht werden Anarchisten, Sozialisten, Gewerkschafter, wie vor und während des Zweiten Weltkriegs Faschisten und Nationalsozialisten. Später eher Alternative, die neu aufkommenden Grünen, Friedensaktivistinnen, Entwicklungshelfer, Frauenrechtlerinnen, Anti-AKW-Aktivisten und schon damals auch religiöse Gruppierungen.
Kurz: alles, was aus Sicht der Behörden irgendwie subversiv oder destabilisierend hätte werden können. Selbst Kulturschaffende werden vom Schweizer Staat überwacht. 1989 dann folgt die Zäsur. Mit dem Fichenskandal fliegt die Informationssammelwut der Behörden auf.
Laut offiziellen Archiven wurden im letzten Jahrhundert bis 1990 mehr als 700'000 Personen in der Schweiz überwacht. Besonders intensiv zur Zeit des Kalten Krieges. Nicht nur das Vertrauen von Geflüchteten in die Behörden wird so erschüttert, sondern auch das vieler Schweizerinnen und Schweizer. Zehntausende ziehen in Bern vors Bundeshaus und demonstrieren gegen den «Schnüffelstaat», wie sie ihn nennen.
Vom vermeintlichen Spion zum Bünzli
Und Jan Berdnik? Mit dem Fichenskandal enden Anfang der 90er-Jahre auch die Aufzeichnungen in seiner Akte. Fast gleichzeitig findet er in der neuen Heimat die Liebe seines Lebens, heiratet und gründet eine Familie. Anfang der 90er-Jahre wird er in St. Gallen eingebürgert. Allen Widrigkeiten zum Trotz kommt Jan Berdnik in der Schweiz an.
«Es ist mir auch schon passiert, dass mich meine Bekannten als Bünzli-Schweizer bezeichnen», erklärt Berdnik mit einem stolzen Lachen. Manchmal verhalte er sich wohl noch schweizerischer als dies der Durchschnittsschweizer tue. So stolz wie das bei Jan Berdnik klingt, kann das nur einer sagen, der sich diesen Status hart erarbeiten musste.
Während dem Gespräch, zu Hause in seinem Wohnzimmer, hat Jan Berdnik oft gezögert, seine Worte immer wieder sorgfältig abgewogen. Das Misstrauen, mit dem er ein Leben lang konfrontiert war, liess ihn vorsichtig werden.
Als er aber zum Schluss noch einmal zurückschaut, gefragt nach einer Bilanz zu seiner eigenen Geschichte, da macht er eine Aussage im Brustton der Überzeugung: Vieles im Leben könne man sich nicht aussuchen. Man könne es nur beeinflussen. «Und ich glaube, ich kann ruhig zurückschauen und sagen: Ganz falsch habe ich das nicht gemacht.»