Alles beginnt mit einer Denunziation. Ein verhafteter Kleinkrimineller verunglimpft einen Kollegen: Dieser habe noch viel mehr gestohlen als er, unter anderem «45 Kilo Weissmehl». In den Kriegszeiten ist Mehl ein begehrtes und rationiertes Gut. Doch statt Weissmehl findet die Zürcher Polizei in einem Estrich Kisten mit Waffen und Bomben sowie «aufrührerische italienische Flugblätter». Es ist Januar 1918, das vierte Jahre des mörderischen Ersten Weltkriegs.
«Ein Zufallsfund» seien die Kisten, schreibt die Polizei in ihrem Rapport. Noch ahnt sie nicht, dass dieser Zufallsfund eine verdeckte Operation verhindert. Wäre sie gelungen, so sind Historiker überzeugt, hätte sie den Verlauf des Ersten Weltkriegs verändert. Denn das Ziel der geheimen Operation war, Waffen und Bomben via Schweiz ins Nachbarland Italien zu schmuggeln und so die dortige Regierung zu destabilisieren. Der Dokumentarfilm «Spionageparadies Schweiz» zeigt im Detail, wie das hätte geschehen sollen.
Die Schweiz ist zur Zeit des Ersten Weltkriegs ein Spionageparadies. Das neutrale Land grenzt an die kriegsführenden Mittelmächte (die Kaiserreiche Deutschland und Österreich-Ungarn), die gegen die Entente kämpfen, bestehend aus Frankreich, England und dem Zarenreich Russland. Dieser Allianz sollten sich später noch Italien und die USA anschliessen. Die kriegsführenden Nationen rekrutieren in der Schweiz Landsleute, bilden sie aus und schicken sie als Spione ins Feindesland.
Gleichzeitig spionieren ihre Geheimdienste hierzulande systematisch die gegnerischen Agenten-Netzwerke aus. Kurz: In der Schweiz tummeln sich Hunderte von Spionen. Denn die Schweiz ist neutral, zudem werden alle Sprachen der kriegsführenden Nationen gesprochen. Und vor allem: Im Unterschied zum Ausland, wo Spione meist sofort exekutiert werden, erhalten sie in der Schweiz milde Strafen und werden dann des Landes verwiesen.
Sabotageakt vermutet, Spionage verkannt
Beim Zufallsfund im Zürcher Estrich ahnt der zuständige Untersuchungsrichter Otto Heusser anfangs noch nicht, dass er einer Spionageaffäre auf der Spur ist. Vorerst zeigen seine Ermittlungen: Den Estrich haben Anarchisten gemietet. Sie gelten damals als die grosse Bedrohung, denn sie setzen sich für die Abschaffung des Staates ein. Und viele schrecken nicht von Attentaten zurück, wie zum Beispiel die Ermordung der österreichischen Kaiserin Elisabeth, der populären Sissi, 1898 in Genf.
Entsprechend ist die Reaktion von Untersuchungsrichter Heusser: Im grossen Stil verhaftet er Anarchisten und Menschen, die er für radikale Umstürzler hält. Umso mehr, als die Polizei kurze Zeit später ein weiteres anarchistisches Waffenversteck entdeckt. Und: Die aufgeschreckten Anarchisten werden beobachtet, wie sie Waffen und Giftstoffe in der Limmat versenken.
Polizeitaucher bergen Zeitzünder, Zündschnüre, Handgranaten und verschlossene Reagenzgläser. Diese, so stellt sich später heraus, enthalten gefährliche Bakterien – offenbar für geplante Giftanschläge. Schnell wird klar: Es handelt sich um deutsche Produkte.
All dies lässt sich heute anhand eines bisher unbekannten Archivbestandes rekonstruieren, den SRF im Bundesgericht Lausanne gefunden hat: Sämtliche Ermittlungsakten von Untersuchungsrichter Otto Heusser sind dort auch über 100 Jahre nach den Ereignissen fein säuberlich aufbewahrt. Selbst die Flugblätter in italienischer Sprache und das Papier, in dem die Waffen eingewickelt waren, sind dort als Beweismittel archiviert. So lassen sich Heussers Ermittlungen lückenlos rekonstruieren.
Arg- und ahnungsloser Ermittler
Untersuchungsrichter Heusser geht davon aus, «dass die Sprengstoffe für revolutionäre Zwecke in Zürich bestimmt gewesen sind». In seinem Bericht schreibt er: «Für die beabsichtigte Verwendung der Sprengstoffe auf dem hiesigen Platze spricht speziell die lange Lagerung der Ware.» Entsprechend energisch geht er vor. Schliesslich sitzen über hundert Verdächtige in Untersuchungshaft.
Hauptziel, so Heusser: «Wir wollten im Interesse des Staates einen harten Schlag gegen den Anarchismus zu führen, ihn in seinem Lebensmark treffen.»
Doch die meisten Anarchisten schweigen hartnäckig. Heusser setzt sie unter Druck; es gibt Berichte über Schläge, Nahrungsentzug, Einzelhaft. Heusser räumt später ein, er habe Angeschuldigte «in Dunkelarrest» versetzen müssen «wegen ihres frechen, ungebührlichen Auftretens». Und: «Was die kritisierte Verpflegung anbetrifft, so war dieser Übelstand eine Folge der Kriegsrationierung. Und den Lesestoff musste ich entziehen, weil sie vermittelst der Bücher unter sich correspondierten.»
Ein Geständnis, ein Selbstmord und keine Erkenntnisse
Schon kurz nach Festnahme bringt sich der Hauptangeschuldigte, der italienische Anarchist Arcangelo Cavadini, um. Heusser schreibt kühl: «Eine unmittelbare Folge eines durch ihn abgelegten Geständnisses.» Und: «Offenbar hat Cavadini es vorgezogen, sich durch Selbstmord der Notwendigkeit, weitere Zugeständnisse zu machen, zu entziehen.»
Cavadinis Geständnis, das zeigt der Archivbestand, besteht im Wesentlichen darin, dass er die Waffen und Bomben von indischen Anarchisten erhalten habe. Die indischen Anarchisten kämpfen damals gegen die Kolonialmacht England, planen Anschläge in Indien.
Cavadini hatte mit ihnen, so sein Geständnis kurz vor dem Selbstmord, über Anschläge in Italien gesprochen. Kurz danach lässt Heusser einen Cavadini-Bekannten verhaften, den angeblichen Anarchisten Erwin Briess. Was Heusser nicht ahnt: Briess ist in Wirklichkeit ein englischer Agent.
Ab da wird die Geschichte zu einem Agententhriller: Briess observiert als englischer Agent das anarchistische Milieu in Zürich. Und er wird Zeuge, wie indische Anarchisten ihre italienischen Kollegen mit Waffen ausrüsten. Gemeinsam mit den indischen Anarchisten holt er eine Kiste ab, die mit deutschem Diplomatenkurier nach Zürich spediert wurde.
Die Kiste wird provisorisch im Büro des vermeintlichen Anarchisten Briess deponiert, dieser öffnet sie heimlich und sieht: Sprengstoff. Briess informiert sofort London, teilt mit, dass die indischen Anarchisten deutschen Sprengstoff an italienische Anarchisten weitergaben. Mit dem Ziel, das Königreich Italien durch Anschläge zu destabilisieren und so den deutschen Kriegsfeind auszuschalten – eine klassische verdeckte Operation also.
Kurze Zeit später entdeckt die Zürcher Polizei die Kiste zufällig im Estrich – die Anschlagpläne sind gescheitert, der raffinierte Plan des deutschen Kaiserreichs missglückt.
Auf falscher Fährte
Noch aber ist Untersuchungsrichter Heusser auf die Anarchisten fixiert – er verschliesst die Augen vor den Drahtziehern aus Deutschland. Denn er ist davon überzeugt, es gehe um einen revolutionären Umsturz in der Schweiz. Ein Anarchist habe in der Wirtschaft Traube an der Zurlindenstrasse in Zürich Kreis 3 erklärt: «Es gehe nicht mehr lange, werde man in Zürich erfahren, wie es krachen werde, es seien genügend Sprengstoffe da.» Heussers Augenmerk auf die Anarchisten nutzen die deutschen Drahtzieher, die hinter der verdeckten Operation stehen: Sie setzen sich nach Deutschland ab.
Dann denunziert die französische Spionageabwehr im Juni 1918 den deutschen Agenten Hans Schreck – er sei der Kopf der Operation. Schreck kann sich nicht mehr absetzen, er wird verhaftet. Gegenüber Heusser sagt Schreck, er wisse von noch viel mehr anarchistischen Waffenverstecken. Für eine Aussage müsse er aber grünes Licht aus Deutschland abwarten.
Während Heusser geduldig auf mehr Informationen hofft, schmuggelt Schrecks Frau ein Seil in die Zelle, er seilt sich ab und flüchtet ebenfalls nach Deutschland. Vor dort telegrafiert er: «Bin gut in Deutschland gelandet. Entschuldigen Sie meinen Schritt. Dr. Schreck.»
Eigentlich sind die Ermittlungen damit gescheitert, die Drahtzieher entwischt. Trotzdem stehen im Juni 1919 die verhafteten Anarchisten vor dem Bundesstrafgericht. Dort sieht man die Sache entschieden anders als Heusser: Die meisten Anarchisten werden nach wenigen Verhandlungstagen auf freien Fuss gesetzt – sie seien in keiner Weise in Attentats-Pläne eingeweiht gewesen. Sogar der angebliche Haupttäter, ein Anarchist, für den der Staatsanwalt fünfeinhalb Jahre Gefängnis verlangt, wird freigesprochen. Eine Schlappe für Otto Heusser, ein Erfolg für die Rechtsstaatlichkeit.
Gescheitert, befördert, erschossen
Trotz des Misserfolgs wird Otto Heusser kurz darauf zum Kommandanten der Stadtpolizei Zürich befördert. Denn für das Bürgertum hat er bewiesen, dass er die verhasste Linke hart anfasst. Heusser tendiert später mehr und mehr Richtung extreme Rechte – schliesslich ist er auch für die Stadt Zürich nicht mehr tragbar.
Spion Hans Schreck setzt seine Karriere im deutschen Nachrichtendienst fort – kurz vor dem Zweiten Weltkrieg wird er von französischen Agenten erschossen. Und der englische Agent Erwin Briess findet nach Auffliegen der Spionageaffäre keinen Halt mehr – er verstrickt sich mehr und mehr in dunkle Geschäfte und wird als Spion entlassen.