Das wohl berühmteste Mordwerkzeug des 19. Jahrhunderts liegt in einem Schaukasten des Josephinums, der medizingeschichtlichen Sammlung der Universität Wien. Es handelt sich um eine spitz zugeschliffene Feile mit kurzem Holzgriff.
Das daran befestigte originale Zertifikat des Genfer Strafgerichts bestätigt in sauberer Handschrift, dass es sich um jene Waffe handle, derer sich «Lucheni Luigi, Attentäter der Kaiserin von Österreich» am 10. November 1898 bedient habe. Und zwar, um Elisabeth zu erstechen.
Der Anarchist durchstach damit ihr kaiserliches Herz. Doch die stets aufs Engste in ihr Korsett eingeschnürte Elisabeth spürte die Wunde vorerst nicht. Sie hielt das Attentat für rüdes Anrempeln und bestieg ein Schiff auf den Genfersee, wo sie schliesslich zusammenbrach und erst drei Stunden später an Land verschied.
Der Tod konnte warten
Dank ihrer Körperdisziplin und Selbstkasteiung lebte Kaiserin Elisabeth, genannt Sisi (familienintern mit nur einem S geschrieben), also noch einige Stunden länger, als nach einer solchen Verletzung erwartbar gewesen wäre. Und somit über ihren Tod hinaus.
Kokett gesprochen hat die Kaiserin (1837 bis 1898) das bis zum heutigen Tag so gehalten. Denn Sisi-Kopien, Sisi-Doubles und Sisi-Deutungsvarianten schossen und schiessen aus dem Boden wie Pilze nach dem Regen. In letzter Zeit hat sich das Phänomen verdichtet – besonders in den Bereichen Film, Serien und Roman.
«Kaiserin Sisi ermittelt»
Was da nicht alles dabei ist! Sogar Mordfälle hat die schöne Kaiserin dieser Tage zu lösen: nämlich in einer neuen Kriminalromanserie für Erwachsene von Jugendbuchautor Thomas Brezina, der mit über 70 Millionen verkauften Büchern seines fast 600 Titel starken Werks als Österreichs erfolgreichster Literaturexport gelten darf und zweifellos ein Näschen für vielversprechende Sujets hat.
«Sisis schöne Leichen» und «Sisis Ball der Mörder» heissen die ersten beiden Bände von Brezinas «Kaiserin Elisabeth ermittelt»-Serie. Ein grosser goldener Punkt mit dem Schriftzug «Krimijahre einer Kaiserin» prangt auf jedem Buchexemplar.
Kitsch im Quadrat
Nicht nur gelernte Österreicherinnen und Österreicher wissen sofort, worauf hier angespielt wird. «Sissi – Schicksalsjahre einer Kaiserin» heisst nämlich der letzte Teil der Film-Trilogie von Regisseur Ernst Marischka aus den späten 1950er-Jahren.
Darin streichelt die blutjunge Romy Schneider als blutjunge Elisabeth in der Ischler Sommerfrische Rehkitze und erobert das Herz des jungen Kaisers Franz Joseph (Karlheinz Böhm) ebenso im Sturm wie später das aller Ungarinnen und Ungarn. Das war «kitsch as kitsch can».
Aber das Herz geht einem immer noch gewohnheitsmässig auf, wenn man die Filme – alle Jahre wieder – rund um Weihnachten im Fernsehen sieht.
Sie kann auch Cannes
Der Erfolg der «Sissi»-Filme war schon in den 1950er-Jahren so durchschlagend, dass das österreichische Unterrichtsministerium in den Jubelchor einstimmte und dem zweiten «Sissi»-Teil, der 1957 an den Filmfestspielen von Cannes im Wettbewerb lief, das Prädikat «künstlerisch wertvoll» verlieh.
Zudem attestierte man ihm, «keine wesentlichen Fehler oder historische Verzeichnungen» aufzuweisen und verstieg sich zur Behauptung, der Film stelle «die Werte des Herzens und der Menschlichkeit als charakteristische Merkmale österreichischer Wesensart» dar.
Eine wie Lady Diana
Die Werte des Herzens mit Elisabeth als Königin der Herzen. Oder sogar als Kaiserin der Herzen. Da verwundert es nicht weiter, dass die «Kaiserliche Wagenburg» im Wiener Schloss Schönbrunn Sisi als «Lady Diana des 19. Jahrhunderts» bewirbt. Warum nicht? Die Kombination aus Schönheit und Lebenstragödie zieht diesseits und jenseits des Ärmelkanals gleichermassen.
Pikanterie am Rande: Ein englischer Reitlehrer spielt in beider Leben und Legenden eine Rolle. Jener von Sisi, ein gewisser Captain William George Middleton, ist sogar über drei Ecken ein Vorfahre von Kate Middleton, der aktuellen Princess of Wales.
Sisi, die Leistungssportlerin
Letzteres berichtete die deutsche Autorin Karen Duve kürzlich in einem Interview. Mit ihrem neuen, akribisch recherchierten Roman «Sisi» reiht sich Duve nahtlos in den Reigen jener, die derzeit so geballt den tourismuserprobten Sisi-Mythos um neue Interpretationen zu ergänzen trachten.
Schwerpunkt bei Duve, die selbst eine ausgewiesene Pferdenärrin ist: die knapp 40-jährige Sisi als Leistungssportlerin und eine der ersten Parforce-Reiterinnen von Rang. Ausserdem: Sisi als eifersüchtige Tante, die sich ihre bayrische Nichte Marie-Louise erst zu einer Art Klon heranzüchtet, um selbigen auf dem Aristo-Heiratsmarkt aufs Rücksichtsloseste zu verschachern.
Der Sisi aus Karen Duves Roman wäre man nicht gerne ausgeliefert. Charismatisch und aussergewöhnlich schön ist sie zwar immer noch. Aber auch manipulativ, narzisstisch und von ihrem eigenen Spiegelbild so gefesselt wie die böse Stiefmutter bei Schneewittchen.
Ein Hauch von Feminismus
Sisi um die 40: Genau diese Lebensphase leuchtet auch Marie Kreutzers hochgelobter Kinofilm «Corsage» aus. Opulent inszeniert spielt Vicky Krieps mit majestätischer Langsamkeit eine historisch akkurat kettenrauchende, erschöpft-schöne Sisi im Vielreise-Fluchtmodus.
Längst hat sie sich ihren höfischen Pflichten entzogen und ist für die Öffentlichkeit zum sagenumwobenen Phantom geworden, während sie innerlich die ewig Zerrissene bleibt.
Der ironische Befreiungsschlag, den das «Corsage»-Drehbuch gewährt, läuft über Crèmeschnitten-Konsum, Haare-Abschneiden und Körperdouble-Einsatz: lauter Schritte wider das selbstauferlegte Schlankheits- und Big-Hair-Schönheitsdiktat und damit fast schon ein feministisches Statement.
Reality-TV-Elemente plus Sisi-Folklore
Darstellungen der alternden Kaiserin haben Neuheitswert auf dem Sisi-Bildermarkt. Bisher galten fast ausschliesslich die Anfangsjahre der Kaiserin – vom Wildfang im Liebestaumel über die hofzeremoniell- und Schwiegermutter-geknechtete Jungkaiserin bis zur eigensinnig glänzenden Nachwuchsmonarchin – als bildschirmtauglich.
Wer das nicht glaubt, kann sich bei der neuen deutschen Netflix-Miniserie «Die Kaiserin» davon überzeugen, die des nationalen und internationalen Erfolgs wegen demnächst in ihre Fortsetzung geht.
Hier wird sechs elendslange Stunden hindurch nur Annäherung, Heirat und Beginn der Ehe zwischen Sisi und Kaiser Franz Joseph verhandelt, inklusive Liebesnacht auf dem Bärenfell vorm Kamin, sündigen Absinth-Festen mit Matrosen-Türstehern, Sisi-neidischem Kaiserbruder und einer Art Hofdamen-Challenge.
Versatzstücke des Reality-Trash-TVs vermengt mit Sisi-Folklore: Quotenmässig scheint auch dieses Rezept aufzugehen. Wenn Kaiser Franz Joseph seiner Gattin zur Aufheiterung einen Pferdewitz erzählt («Kommt ein Pferd in ein Gasthaus. Sagt der Wirt: Warum so ein langes Gesicht?»), ist das aber höchstens unfreiwillig komisch.
Selbstbefriedigung zur besten Sendezeit
Dass eine andere aktuelle Serien-Sisi, die von RTL, «zur Primetime masturbierend gezeigt wird» (so eine österreichische Schlagzeile zur ersten Staffel), lockt zwar vor den Bildschirm, schockiert aber natürlich niemanden mehr. Bei RTL geht man – ähnlich wie in der royalen Netflix-Serie «Bridgerton» – ziemlich konsequent nach dem Prinzip «Sex sells» vor.
Auch das gibt der Mythos her. Das Spektrum, das diese neuen Sisi-Bilder bedienen, ist so breit wie die Projektionsfläche Sisi ergiebig: die schönste Frau ihrer Zeit. Die Sportlerin. Die Charismatikerin. Die Disziplinierte. Die Verschwenderin. Die Zwänglerin. Die liebende Ehefrau. Die enttäuschte Ehefrau.
Die liebende Mutter. Die Rabenmutter. Die Pferdenärrin. Die Natursuchende. Die ruhelos Reisende. Der herzige Wildfang. Die unnahbare Kaiserin. Die Begaffte. Die Haar-Fetischistin. Die Öffentlichkeitsscheue. Die Dichterin. Die Hysterikerin. Die Rebellin. Die Konventionsverweigerin. Die Femme fatale. Die Herrscherin. Aus all dem lässt sich fröhlich für Roman und Leinwand schöpfen.
Wahn und Widerspruch
Man hat es in der legendenumwobenen österreichischen Kaiserin nicht nur mit einem schillernden Charakter zu tun. In ihrer gut belegten Widersprüchlichkeit hat Sisi auch manches vorweggenommen, das bestens zum Lebensgefühl der Gegenwart passt.
Dass sie die Kontrolle über ihre öffentliche Inszenierung selbst wollte und sich ab 30 nicht mehr fotografieren liess, fügt sich wunderbar in einen Zeitgeist, in dem Social Media-Selbstbildkreation als Kernkompetenz gilt. Mit ihrem Schlankheitswahn ist Sisi modernem Körper-Optimierertum ebenso zuvorgekommen wie mit ihrem – für Frauen der Zeit so untypischen – Leistungssport.
Als Frau, die sich der ihr zugedachten Rolle verweigerte, taugt sie sogar zum feministischen Role Model. Weil Sisi der Ausbruch aber nicht nachhaltig gelang und erst recht nicht zu Lebenszufriedenheit führte, ist sie auch für Opfer-Identifikationen aller Art interessant.
Und auch für die Kommerzialisierung von LGBTQ lässt sich Sisi nutzen. Im Frühjahr 2023 kommt ein Film von Frauke Finsterwalder nach einem Drehbuch von Christian Kracht ins Kino. In «Sisi und ich» wird sich eine von Sisis Hofdamen in die Kaiserin verlieben. Denn selbstverständlich waren bei den Verhältnissen, die der historischen Sisi nachgesagt werden, auch gleichgeschlechtliche dabei.
Die Sisi-Bilder folgen den Zeitläuften
Kurzum: Sisis kulturelle Abbilder sind den Zeitläuften gefolgt. Die herzige Romy-Schneider-Sissi der 1950er-Jahre wäre masturbierend unvorstellbar. Rund um Sisis 125. Todestag im Jahr 2023 sieht das ganz anders aus. Zudem boomt das Royale insgesamt.
Woher das kommt? Da wäre einmal die «Misery-Loves-Company»-Theorie: In Krisenzeiten sieht man es gern, dass auch Prinzessinnen & Co. ihre Probleme haben. Banal, aber bestechend. Das Gegenteil ist jedoch genauso wahr: Das Royale bietet eine kontrastreiche, märchenhaft kostümierte Gegenwelt zum Alltäglichen.
Ein dritter Aspekt ist gewissermassen struktureller Natur: Das Aristokratisch-Dynastische funktioniert wie eine Abfolge von Staffeln, Folgen und Sequels. Man kann stets dranbleiben und spekulieren, wie es wohl weitergehen wird mit Meghan und Harry, Charles und Camilla, Lady Di oder eben Kaiserin Sisi – sei es im Realen, sei es in der fiktiven künstlerischen Doppelgängerschaft.
Es begann mit «The Queen»
Nicht zufällig heisst eine derzeit im Wiener Filmarchiv laufende Retrospektive auch «Cinema Royal». Sie versammelt kaiserlich-königliche Kino- und Dokumentarfilmhelden und -heldinnen aus Gegenwart und Vergangenheit.
Den Ursprung des Hypes ortet Filmarchiv-Chef Florian Widegger in Stephen Frears Historienfilm «The Queen» aus dem Jahr 2006 mit Helen Mirren in der Titelrolle.
Es war die erste filmische Charakterstudie der privaten Elizabeth II. im Schreckensjahr 1997, in dem Lady Di starb und es der Queen nur mit grösster Mühe gelang, ihre Menschlichkeit aus dem Klauengriff des Protokolls zu befreien. Voyeuristischer Mehrwert inklusive.
«Könnt' vor Wut krepieren»
Für Neuinterpretationen aller Art gibt Kaiserin Sisi noch mehr her als die strenge Queen. Wobei die historische Sisi ihre Wiedergängerinnen vermutlich allesamt gehasst hätte.
Erst recht die Sisi-Doubles, die jedes Jahr zu Kaisers Geburtstag im oberösterreichischen Sommerfrische-Kurort Bad Ischl, einem der Zentren der Sisi-Wallfahrerei, auf eigens ausgerollten roten Teppichen durch die Strassen wandeln und allseits bestaunt werden.
Wie hatte die Kaiserin in den 1880er-Jahren in ihrem Gedicht «an die Gaffer» geschrieben? «Es tritt die Galle mir fast aus,/ Wenn sie mich so fixieren;/ Ich kröch’ gern in ein Schneckenhaus / Und könnt’ vor Wut krepieren.»