Der beschauliche Ort Saint-Imier im Berner Jura ist in diesen Tagen der Schmelztiegel der Antiautoritären.
Vor der Eishalle spielt ein junger, tätowierter Mann auf seiner Gitarre. Er ist eigens aus Spanien für den Jubiläumskongress von «Anarchy 23» angereist. Anderswo wartet ein Punk mit Irokesen-Haarschnitt auf den nächsten Anlass. Eine Frau aus Chile sitzt in der Eishalle auf einem Sofa und entspannt sich.
Neue Anarcho-Generation am Drücker
Was bei einem Rundgang auffällt: Die meisten Teilnehmenden sind unter 30 Jahre alt.
Ihnen geht es vor allem darum, Ideen auszutauschen, Beziehungen zu festigen und andere davon zu überzeugen, sich der Bewegung anzuschliessen.
«Die Gesellschaft muss in eine andere Richtung gehen, als dies momentan der Fall ist. Ich hoffe, dass ich hier Leute treffe, die einen ähnlichen Wunsch haben», sagt eine Frau aus Deutschland. Es sei eine gute Möglichkeit, sich international zu vernetzen, sagt ein anderer Teilnehmer.
In der Tat kommen die Menschen aus den verschiedensten europäischen Ländern. Sie feiern – wegen Corona mit einem Jahr Verspätung – den 150. Jahrestag des Kongresses von Saint-Imier.
Kundschaft kann Preise selbst bestimmen – oder mitarbeiten
Der Anlass gleicht wegen des Campingplatzes einem Festival, wo Workshops, Diskussionsrunden und kleine Konzerte steigen. Mit einem entscheidenden Unterschied.
Zwei Küchen und vier Bars bieten ihre Waren zu einem Preis an, den die Kundschaft selbst bestimmen kann. Auch die Kinderbetreuung ist gratis. Wer den Anlass unterstützen will, bietet seine Arbeitskraft an.
Es ist eine neue Anarchie-Generation. Ich hätte nie gedacht, dass so viele junge Leute hierhin kommen.
151 Jahre nach dem ersten Treffen sind die Ansichten dieselben. Die Bewegung hat sich in den letzten Jahren jedoch stark gewandelt. «Es ist eine neue Anarchie-Generation. Ich hätte nie gedacht, dass so viele junge Leute kommen», sagt der Autor Daniel de Roulet, ein Alt-Anarcho aus den 68ern, der in Saint-Imier aufgewachsen ist.
Tierwohl ist den Anarchos wichtig
Die Ziele seien dieselben. Man setze sich für ein besseres Leben ein. Als Beispiel sagt er, dass man etwa das Verhältnis zu Tieren überdenken sollte. «Oder wir brauchen ein anderes Verhältnis zum Thema Gender.»
Der Genfer Schriftsteller hat sich mit der Gründung des Kongresses 1872 auseinandergesetzt und den Roman «Zehn unbekümmerte Anarchistinnen» geschrieben. Warum fiel die Wahl damals gerade auf die Uhrenstadt Saint-Imier? «Damals wurden gerade in Deutschland viele Arbeiter entlassen. Viele zogen darauf in die Uhrenstadt Saint-Imier, um hier Arbeit zu finden.»
Stoff für viele Diskussionen gibt es in Saint-Imier genug. Das Anarchie-Treffen dauert noch bis am Sonntag.