Albi Kern blickt mit gemischten Gefühlen auf die Zeit zurück, in der es plötzlich hiess: Bleiben Sie zu Hause. «Da war schon eine gewisse Einsamkeit», erzählt er.
Der 78-Jährige und seine Frau wohnen in einem grossen Haus mit Garten. Dort hätten sie nachmittags gesessen und den Passanten zugeschaut, die auf der Strasse vorbeigingen. «So hat man sich nicht ganz so einsam gefühlt.»
Menschen wie Albi Kern, die über 65 Jahre alt sind, machen einen Fünftel der Schweizer Bevölkerung aus. Seit der Corona-Pandemie gelten sie als sogenannte Risikogruppe – weil sie aufgrund ihres Alters ein erhöhtes Risiko haben, bei einer Ansteckung mit SARS-CoV-2 ernsthaft und lebensbedrohlich zu erkranken.
Bei Albi Kern war diese Sorge begründet: Kurz vor dem Ausbruch der Pandemie hatte er eine Lungenentzündung. Sein Herz war schwach, er brauchte einen Herzschrittmacher.
«Die Altersgrenze von 65 ist künstlich»
Doch die Schutzmassnahmen der Alten und Älteren, so sinnvoll sie aus epidemischer Sicht auch sind, haben eine Kehrseite: Sie haben zu Stigmatisierungen geführt, zu Isolation und Einsamkeit.
Jahrelang hat sich die Gerontologie für ein differenziertes Altersbild eingesetzt. Diese Bemühungen hat Corona praktisch über Nacht zerschlagen: Alte und Ältere, egal ob sie an Krankheiten leiden oder fit sind, werden als homogene Gruppe behandelt.
Das sei ein Fehler, findet Bettina Ugolini, die am Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich eine Beratungsstelle für alte Menschen leitet: «Die Altersgrenze von 65 ist völlig künstlich», kritisiert die Gerontopsychologin.
«Das Einzige, was die Menschen in diesem Alter gemeinsam haben, ist der Ausstieg aus dem Berufsleben – ansonsten sind sie völlig heterogen.» Das hätten die Behörden bei ihren Empfehlungen und Verboten nicht berücksichtigt.
Als Kollektiv stigmatisiert
Die sozialen Auswirkungen aber sind fatal: «Beim Begriff ‹Risikogruppe› schwingt mit, dass ältere Menschen als Risiko für andere wahrgenommen werden», sagt Tillman Slembeck, Professor für Volkswirtschaftslehre an der ZHAW. Diese Zuschreibung habe die ältere Generation sozusagen als Kollektiv stigmatisiert.
Bettina Ugolini ergänzt, dass die Älteren schon vor Corona häufig als «Problemgeneration» wahrgenommen worden seien: zu teuer, hilflos, eine Last für die Jungen. «Nun ist ein neues Label dazugekommen, nämlich das ‹Risiko›», so Ugolini. «Das hat viele Alte in ihren Grundfesten erschüttert. Nur wenige haben dagegen rebelliert».
Extreme Situationen in Heimen
Drastisch ist die Situation in den Alters- und Pflegeheimen: Diese haben sich durch Corona nach aussen und innen abgeriegelt, die Heimbewohner wurden komplett abgeschottet.
Ein Augenschein im Alters- und Pflegezentrum Ergolz im Kanton Baselland am 26. März etwa zeigt leere Gänge, Grabesstille im Speisesaal, die Bewohnerinnen und Bewohner essen allein in ihren Einzelzimmern. Die gewohnten Spaziergänge in der Gruppe sind verboten.
«Wir waren stolz darauf, dass bei uns immer etwas los ist, dass gesungen und getanzt wird. Das ist jetzt alles weg», beschreibt Geschäftsführer Raymond Caduff die Situation kurz nach dem Eintreten der Schutzmassnahmen.
Die Isolation in Heimen war besonders schwer
Die Corona-Massnahmen des Bundesrats wurden in Heimen besonders streng ausgelegt, weil hier viele vulnerable Personen zusammenleben. Die Isolation, die fast drei Monate dauerte und mittlerweile langsam gelockert wird, ist für Betroffene und ihre Angehörigen gravierend.
Eine Tochter erzählt: «Mein Vater hat sich nach einem Hirnschlag Ende letzten Jahres dank seines grossen Lebenswillens aufgerappelt – doch in der aktuellen Situation verliert er diesen Lebenswillen. Und wir müssen einfach zuschauen.»
Rechtfertigt das Ziel, einen alten Menschen zu schützen, ihn so zu isolieren? Wann wird Schutz zur Strafe?
Rund die Hälfte aller bisherigen Corona-Todesfälle in der Schweiz ereignete sich in Heimen. Ohne rigorose Schutzmassnahmen, so argumentieren Behörden und viele Heimleitungen, wären noch viel mehr alte Menschen gestorben.
Anders sieht dies Juristin Franziska Sprecher von der Universität Bern: «Die starke Einschränkung der Bewegungsfreiheit oder das Besuchsverbot von Angehörigen und Rechtsvertretern haben die Grundrechte der Betagten beschnitten», sagt die Juristin.
Aber: «Grundrechte gelten immer. Sie können nicht ausgesetzt werden – auch nicht in Notsituationen», so Franziska Sprecher.
Oberstes Ziel: Wohlbefinden
Katrin Bucher, die in Bern das Pflegeheim Zentrum Schönberg leitet, bestätigt aus der Perspektive der Heimbewohner: «Nur weil ich alt und pflegebedürftig bin, verwirke ich meine Rechte nicht.» Ihr oberstes Ziel sei, den Bewohnerinnen ein Maximum an Wohlbefinden zu gewähren, denn die verbleibende Lebenszeit im Heim sei kostbar.
«Hier müssen wir Gesundheitsfachpersonen individuell vorgehen», so Katrin Bucher. «Das ist eine ethische Frage – technokratische Weisungen helfen uns dabei wenig.»
Juristin Franziska Sprecher fordert: «Die Situation muss rechtlich aufgearbeitet werden, um den Institutionen Rechtssicherheit zu geben.» Die Heimleitungen trügen eine grosse Verantwortung, seien aber teils verunsichert und fürchteten sich vor Sanktionen.
Keine Lust auf «Stubenhocken»
Sanktionen fürchtet die Künstlerin Cecilia Heijmerink nicht: Die 75-Jährige ist eine der wenigen Älteren, die der Pandemie getrotzt haben. Die ersten Wochen waren für sie «eine tolle Zeit», um sich in ihre Kunstprojekte zu vertiefen.
Als dann aber Mitte Mai vom BAG die ersten Lockerungen verkündet und die über 65-Jährigen weiterhin zum «Stubenhocken» verknurrt wurden, empfand Cecilia Heijmerink dies als Zumutung. Sie widersetzte sich: «Als ich spazieren wollte, bin ich halt abends gegangen. Oder früh am Morgen. Ich wollte mich nicht einengen lassen. Das hätte mein Wohlbefinden zu stark eingeschränkt, und auch meine Fantasie und meine Lebendigkeit.»
Risikogruppe soll keine Randgruppe werden
Die wenigsten Seniorinnen und Senioren sind so eigenwillig. «Die Mehrheit hat sich den Anweisungen des BAG klaglos untergeordnet. Viele sind dabei vereinsamt», sagt Gerontologin Bettina Ugolini.
Diese Älteren hätten es trotz der Lockerungen sehr schwer, zur Gesellschaft zurückzufinden. Ugolini wünscht sich deshalb, «dass alte Menschen wieder hör- und sichtbar werden.» Es dürfe nicht sein, dass aus einer Risikogruppe eine Randgruppe werde.