Cecilia Heijmerink gehört mit ihren 74 Jahren offiziell zur Corona-Risikogruppe. Der Zurückgezogenheit der letzten Wochen konnte sie durchaus etwas Positives abgewinnen. Sie ist Künstlerin, hat viel gearbeitet, aber jetzt reicht’s.
«Ich empfinde das als Zumutung, dass man einer Gruppe so stark empfiehlt, sich zurückzuziehen und sich zu isolieren», sagt Heijmerink. Wer sozusagen weggesperrt werde, werde krank. «Viele Leute fallen in eine Depression. Ich habe von Leuten erfahren, die das krank macht.»
Gefahr der Überfürsorge
Dabei geht es beim Zuhause-Bleiben doch um den Schutz der Alten und Gefährdeten. Es ist komplex. Bettina Ugolini, Psychologin und Gerontologin an der Universität Zürich, sieht bei dieser Zuschreibung zwischen Gesunden und Gefährdeten die Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft.
Es komme zu einer Art Über-Fürsorge, die die Betroffenen lähme und sie in ihrem Selbstbild schwäche, befürchtet Bettina Angelini. «Es zeigen sich erste Wirkungen. Dass Menschen sich dem hingeben und in einen Übergehorsam entgleiten, der ihren Radius noch mehr einschränkt als es möglicherweise aufgrund ihrer individuellen Situation nötig wäre.»
Keine homogene Gruppe
Die Psychologin führt auch während der Corona-Pandemie ihre Beratungen fort – per Video und online. Sie spricht sich dafür aus, nicht alle über einen Kamm zu scheren und nicht immerfort von der Risikogruppe zu sprechen. Nicht alle bräuchten denselben Schutz.
«Man ist ja nicht ab 65 bis 100 eine homogene Gruppe. Die Alterswissenschaften konnten in den letzten Jahren sehr schön zeigen, dass Alter eine ungeheure Vielfalt hat. Mancher 70-Jährige, der vermeintlich zu einer Risikogruppe gehört, ist gesünder und fitter als mancher 50-Jährige.»
Es droht die Stigmatisierung
Bettina Ugolini geht in ihrer Kritik sogar noch weiter. Sie beanstandet, dass die Gesellschaft die über 65-Jährigen entmündige. Dies mit der Begründung: Es bestehe die Gefahr, dass im Ernstfall die Spitäler überlastet würden.
«Also wir sprechen allen ab 65 die Kompetenz ab, sich in dieser Gesellschaft so zu bewegen, dass sie sich selber vor einer Infektion maximal schützen und trotzdem in der Lage sind, ihren Freiraum zu finden.»
Die doppelte Stigmatisierung führe dazu, dass Menschen, die sich ohnehin nicht mehr zugehörig fühlen, noch mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt würden.
Und dass solche, die zwar gefährdet seien, sich aber nicht als Betroffene fühlen, jeglichen Selbstschutz meiden. Das allerdings wäre fatal.
Ausweg Einzelgespräch
«Wir müssen aufhören mit globalen Zuschreibungen und hin zu individualisierten Kontaktaufnahmen», , sagt Bettina Ugolini. Will heissen: Der Hausarzt sucht das Einzelgespräch. Risikopatient sei man dann aufgrund seines individuellen Gesundheitszustandes und nicht aufgrund des Alters.
Cecilia Heijmerink hat indes für sich entschieden. «Ich werde Einkaufen in den Zeiten, in denen wenig Leute in den Geschäften sind – das ist um zwölf oder ganz früh um halb acht. Ich will einfach weitermachen, so wie ich bis jetzt gelebt habe.» So sieht Selbstverantwortung aus. Mit 74 Jahren.