So was gibt's sonst nie im stets auf Anstand bedachten Kirchenparlament der evangelisch-reformierten Kirche Schweiz EKS. Am Montag wurde Daniel Reuter, Vizepräsident des Kirchenrates, abgewählt. Seit 1999 sei dies nie vorgekommen, heisst es bei der Medienstelle der EKS auf Anfrage. Weiter zurück könne man auf die Schnelle nicht blicken.
Die Abwahl ist ein Zeichen für die Unzufriedenheit, die unter den Parlamentarierinnen und Parlamentariern der Kirchensynode noch immer herrscht. Unzufriedenheit damit, wie der Rat mit dem Fall Locher umgegangen ist.
Der Skandal um den Präsidenten
Zur Erinnerung: Vor gut zwei Jahren wurde bekannt, dass eine ehemalige Mitarbeiterin dem damaligen Präsidenten der EKS sexuelle Belästigung vorwarf. Gottfried Locher trat unter Druck zurück.
Eine Untersuchung bestätigte später, dass er seine Macht missbraucht und die Mitarbeiterin in ihrer sexuellen, spirituellen und psychischen Integrität verletzt habe. Locher bestreitet dies bis heute.
Zudem kam ans Licht, dass Locher mit einer Ratskollegin eine Affäre hatte – und ausgerechnet sie für die Behandlung der Beschwerde zuständig war.
Abwahl macht Weg frei für einen Neuanfang
Der Rat der EKS wirkte in der zugegebenermassen schwierigen Situation überfordert, kommunizierte zögerlich und wenig transparent. Vizepräsident Daniel Reuter war es, der dieses Vorgehen gegen aussen verteidigte. Und dafür nun die Quittung erhielt.
Mit seiner Abwahl und dem Rücktritt der zweiten Vizepräsidentin, Esther Gaillard, ist der Weg nun frei für einen unbelasteten Rat – unter der neuen Präsidentin Rita Famos. Sie, die ehemalige Konkurrentin von Gottfried Locher, hat sich ernsthaft bemüht um Aufarbeitung. Und wurde nun mit einem Glanzresultat wieder gewählt.
Konsequenzen gezogen
Doch das allein reicht nicht. Die EKS hat zudem Massnahmen beschlossen, um sexuelle Übergriffe und Machtmissbrauch künftig zu verhindern.
So gibt es unter anderem eine externe Ombudsstelle, obligatorische Sensibilisierungskurse und klare Regeln für die Suspendierung eines Ratsmitgliedes. Die evangelisch-reformierte Kirche hat den Fall Locher also aufgearbeitet und Konsequenzen gezogen.
Viele Baustellen für die Zukunft
Der Skandal hallt aber nach. Er hat den Ruf der EKS beschädigt und während zweier Jahre Ressourcen gebunden, die die Kirche gut anderswo einsetzen könnte. Denn sie steht vor grossen Herausforderungen: Bis in 20 Jahren, so sagt eine neue Studie, werden die Hälfte der Mitglieder und ein Viertel der Einnahmen wegbrechen.
Die EKS muss sich gut überlegen, welche Aufgaben die Kirchen künftig wahrnehmen wollen und welche nicht. Sie ist mitten in einem Strukturwandel, muss neue Formen von kirchlicher Gemeinschaft und Engagement schaffen. Sie muss die Weichen stellen in Sachen Digitalisierung. Und vieles mehr.
Mit dem Schlussstrich unter den Fall Locher hat sie nun Hände und Kopf frei, um sich diesen Herausforderungen zu stellen.