«Zwischen 40 und 65 möchte ich mich mal auf die linke Seite der Speisekarte konzentrieren können, statt immer erst die rechte mit den Preisen studieren zu müssen», sagt einer der von Armut Betroffenen in Bruno Fuchs’ neuem Buch «Reiche Schweiz, arme Menschen».
«Armut in der Schweiz ist kaum sichtbar, wenn man bedenkt, dass mehr als 700'000 Menschen betroffen sind», sagt Fuchs. «Was bedeutet es konkret, arm zu sein? Was macht Armut mit Menschen, Familien?» Davon erzählt die Zahl 700'000 nicht. Im Gegenteil, die Zahl frisst die Geschichten der Betroffenen.
Ab wann gilt man in der Schweiz als arm?
Rund 2300 Franken sind für einen alleinlebenden Menschen als Armutsgrenze markiert. Rund 4000 Franken sind es für eine vierköpfige Familie. Würde man diese Armutsgrenze nur um 500 Franken heraufsetzen, dann würden in der Schweiz doppelt so viele Menschen in Armut leben.
Der Publizist Bruno Fuchs hat die Geschichten von elf armutsbetroffenen Menschen aufgeschrieben, Einzelschicksale genauso wie die ganzer Familien.
«Wenn ein Klassenausflug oder Verpflegungsgeld für einen solchen in Höhe von fünf Franken ansteht, kann es passieren, dass die Mutter morgens in der Schule anruft und sagt, das Kind sei krank.» Jedes zwanzigste Kind lebe in der Schweiz in Armut, laut einer neuen Erhebung der Caritas. «Das sind in einer Klasse von zwanzig dann mindestens eines», sagt Fuchs.
In seinem Buch beschreibt Fuchs die Geschichte eines talentierten Mädchens, das im Engadin Basketball spielen will. «Aber wo kann man im Engadin schon Basketball spielen? So richtig?», fragt Fuchs. «Das geht in Chur. Die Schule hätte sich sicher an den Kurskosten beteiligt. Das Mädchen kommt freudestrahlend heim. Die Mutter winkt ab: Die Fahrkarten können wir nicht zahlen.»
Armut frisst Würde
Es ist die Scham im Alltag, niemanden einladen zu können – «zu sich nach Hause schon gar nicht». Oder dass man nicht einfach ins Café sitzen kann, weil man sich die «fünf Stutz für einen Kaffee» nicht leisten könne.
Die Interviewten beschreiben, wie die Armut langsam in sie hineinkriecht und den Selbstwert ankratzt. Das Gefühl, weniger wert zu sein, weniger Würde zu besitzen. Würde ist vielleicht ein zu grosses Wort. Aber Armut frisst sie.
«Selber schuld», heisst es. «Könnte mir nicht passieren», oder: «Jeder ist seines Glückes Schmied.» Nach der Devise: Wenn du’s nicht schaffst, hast du es auch allein zu verantworten. Das sind gängige Klischees. Dabei könne «jede und jeder in Armut geraten», sagt Fuchs.
Das sei die Quintessenz aus seinem Buch: «Es kann jeden treffen», beim gehobenen Mittelstand dauere der Abstieg länger, «aber denkbar ist er». Auch dafür gibt es ein Beispiel in seinem Buch. Der Tochter eines bekannten Berner Detailhändlers sei genau das passiert.
Alleinerziehend? Armutsgefährdet!
«Aber», sagt Fuchs auch, «mehrere Faktoren müssen zusammenkommen. Alleinerziehend zu sein, ist ein Faktor». Beim Interview blättert Fuchs sein Buch nochmal im Schnellverfahren durch: «Bei mir trifft das auf alle Frauen zu: Alle waren alleinerziehend.»
Warum das so ist, liege auf der Hand: Wenn die Kinder klein sind, bleibe zu wenig Zeit zum Arbeiten. «Die Lebensumstände sind so bedrückend, dass seelische Erkrankungen eine mögliche Folge sind. Wenige stellen eine Mutter an, die sich immer mal wieder um die Kinder kümmern muss und mit einer Erschöpfungsdepression ausfällt.»
Da beginne die Abwärtsspirale, manchmal komme Alkohol ins Spiel. Aber schon ohne den sei es schwierig genug. Von Scham, Rückzug, Einsamkeit erzählen die Betroffenen – schlechte Rahmenbedingungen, um mit dem Alltag fertig zu werden.
Armut lässt sich nicht beiseiteschieben
Eine Mutter sollte einmal für die Lehrmittel ihres Kindes 450 Franken zahlen, wusste aber nicht, wie. Auf dem Sozialamt winkte der Sachbearbeiter ab. Ob sie sich prostituieren solle, fragte sie. Eigentlich scherzhaft gemeint. Der fand, das sei eine Möglichkeit.
Eine andere bekam von ihrer Krankenkasse 150 Franken zurück und freute sich – bis die 150 Franken dann kamen: in zwölf Raten à 12.50 Franken.
Fast alle in Fuchs’ Buch haben dennoch irgendwie die Kurve gekriegt. Einige hätten nie aufgegeben, nie den Glauben an sich selbst verloren, da wieder herauszukommen. Eine Betroffene hätte alles gemacht, auch «d’Schiissi putzt». Manche hatten Glück, jemanden zu treffen, der ihnen unter die Arme griff. Aber das passiert nicht häufig.
Gesten des Gebens
Fuchs sagt, er habe zu seinen dreistündigen Interviews gastfreundliche, ja grosszügige Menschen getroffen, «obwohl die sich das ja gar nicht leisten können». Einer habe Fondue gemacht, eine andere habe «Melonen, Crevetten und jede Menge Zeugs aufgetischt».
Sie hätte ihm nach kurzer Zeit vom schlimmsten Abstieg erzählt, den er, Fuchs, sich habe vorstellen können. Kein Verdecken, Verstellen. Offen und ehrlich seien sie gewesen, manche schonungslos. Alle habe er am Schluss gefragt, was ihre Träume seien. Kleine Träume kamen zum Vorschein. Einer will keine grossen Sorgen mehr. Davon habe er genug gehabt.
Über Geld spricht man doch!
Manchmal hatte Fuchs das Gefühl, Reden tue ihnen gut. Jemanden zu haben, der zu ihnen kommt und fragt: «Wie geht es Ihnen?» Und der zuhört und ihnen das Gefühl gibt, auch ihre Geschichte habe einen Stellenwert.
Normalerweise redet man in der Schweiz wenig über Geld, wenig über Armut. Bruno Fuchs tut es. Er hat elf porträtierten Menschen eine Stimme gegeben.