Wer schulpflichtige Kinder hat, kennt die Zettel der Lehrkräfte: «Bitte bis morgen 4 Franken fürs Werken mitgeben!»
Die meisten Eltern werden sich darüber keine Gedanken machen und die Münzen bereitlegen. Aber bei einigen Eltern liegt so eine Summe nicht selbstverständlich bereit, so auch bei der Autorin Daniela Brodesser, deren Familie jahrelang in Armut lebte.
Es dauert, bis man Armut realisiert
Ihr jüngstes, viertes Kind kam mit einer Krankheit zur Welt, die intensive Pflege erforderte und ihr Erwerbsarbeit verunmöglichte. Ihr Mann verlor aufgrund eines Burnouts den Job. Arbeitslosengeld und später Sozialhilfe reichten nicht: Die Behandlung des Kindes kostete – und die Krankenkasse übernahm nicht alles.
«Es dauert im Durchschnitt bis zu 18 Monate, bis man realisiert, in Armut gerutscht zu sein», schreibt Daniela Brodesser in ihrem Buch. «Von dem Zeitpunkt, an dem man den Job verliert, durch Erkrankung nicht mehr wie bisher arbeiten kann oder prekär arbeitet. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem eine Reparatur oder Nachzahlung nicht mehr zu schaffen ist, hofft und glaubt man, es ginge bald wieder aufwärts.»
Verachtung und Beschämung
Man versuche, so lange wie möglich mitzuhalten, spare beim Friseurbesuch, verzichte auf neue Kleider. Zu schaffen macht Brodesser auch der Generalverdacht, von Armut Betroffene wollten nur Sozialleistungen einsacken, seien faul und selbst schuld.
Viel grösserer Schaden als durch Sozialbetrug entstehe zum Beispiel durch Steuerhinterziehung. Das sei in den Medien selten ein Thema. «Warum wohl? Weil wir immer lieber nach unten treten», gibt die österreichische Autorin in ihrem Buch zu bedenken.
Arme Menschen sind nicht gewollt, maximal geduldet.
Wer arm ist, zieht sich zurück, um all den ungefragten Ratschlägen, der Verachtung oder Beschämung zu entfliehen. «Arme werden nicht mehr als Menschen gesehen, nur noch als Kostenfaktor und dementsprechend behandelt», hält Daniela Brodesser fest.
Armut betrifft 15 Prozent der Bevölkerung
Eine Gesellschaft, die Erfolg vor allem am Geld misst, stigmatisiert arme Leute als Versager. Sie können am gesellschaftlichen Leben nicht teilnehmen, werden ausgeschlossen. «Man fühlt sich fehl am Platz. Man ist nicht gewollt, maximal geduldet.»
Was Daniela Brodesser in ihrem Buch beschreibt, betrifft etwa 15 Prozent der Bevölkerung in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Doch die Armut in diesen reichen Ländern wird weitgehend verschwiegen. Das dürfte nicht sein, wenn es in dieser Gesellschaft wirklich darum geht, allen Menschen ein würdiges Dasein zu ermöglichen, so Brodesser.
Wie setzen wir Armut ein Ende?
Was tun? «Sich vernetzen, sich mit anderen austauschen und sehen, dass Armut viele trifft», schreibt Brodesser. Diesen Tipp gibt die Autorin Betroffenen. Für die Politik hat sie einen ganzen Aufgabenkatalog parat: Bildung, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, weg vom traditionellen Rollenbild. Es kann nicht sein, dass Alleinerziehende – vorwiegend Frauen – wegen einer Trennung in Armut geraten, schreibt sie.
Sie wünscht sich mehr armutssensibles Personal in den Ämtern und bessere Informationsvermittlung gegenüber den Bedürftigen. Aufgrund ihrer eigenen Geschichte ist sie zur Armutsexpertin geworden. Heute macht Daniela Brodesser die Öffentlichkeit auf Armut aufmerksam, indem sie Vorträge hält, Kolumnen schreibt – und nun auch dieses lesenswerte Buch.