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Wahrheit und Erinnerung Warum uns das Gedächtnis gerne Streiche spielt

Was hatten Sie gestern zum Mittagessen? Was gabs vor einer Woche? Und was stand schon wieder auf der Einkaufsliste, die dummerweise auf dem Küchentisch liegen geblieben ist? Unser Gedächtnis arbeitet fortlaufend, aber leider oft fehlerhaft: ein Gespräch mit dem Neurowissenschaftler Thomas Reber.

Thomas Reber

Professor für Neuropsychologie

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Thomas Reber ist Professor für kognitive Neurowissenschaften mit Fokus aufs Gedächtnis. Studiert und doktoriert hat Reber in Bern. Nach einigen Jahren der Forschung in Bonn ist er seit 2022 als Professor für Psychologie an der Fernuni in Brig tätig.

SRF: Im Alltag gehen wir davon aus, dass unser Gedächtnis so zuverlässig funktioniert wie ein Archiv. Wie verlässlich ist es tatsächlich?

Thomas Reber: Es gibt zahlreiche psychologische Experimente, die zeigen, dass das Gedächtnis fehleranfällig ist. Viele Dinge vergessen wir wieder. Oder wir erinnern sie falsch. Beim Gedächtnisabruf holen wir Erinnerungen aus einer abstrakten Ebene und rekonstruieren sie.

Während dieses Prozesses füllen wir Lücken mit Informationen, die wir passend finden, aus. Dann wird in der Erinnerung an ein Gesicht schnell aus einem Matthias ein Thomas. So können Erinnerungen falsch rekonstruiert werden.

Sie sind als Neurowissenschaftler spezialisiert auf das Gedächtnis. Wie untersucht man Erinnerungen in einem Gehirn?

Es gibt verschiedene Zugänge. Zum einen unterhalten wir uns mit Menschen, stellen ihnen Fragen oder beobachten ihr Verhalten. Der andere Zugang läuft über Messmethoden, mit denen wir Hirnströme messen: Da gibt es das Oberflächen-EG, über das wir an der Kopfhaut Hirnströme registrieren.

Es gibt Gehirnzellen, die immer bei den gleichen Bedeutungen ‹feuern›, zum Beispiel bei der Erinnerung an die Grossmutter.

Das funktioniert nur sehr schwach. Bei sehr seltenen Anlässen können wir auch Messelektroden ins Innere von Gehirnen implantieren. Etwa bei der Diagnostik von Epilepsie-Patientinnen und -Patienten.

Was sieht man, wenn man Erinnerungen im Inneren eines Gehirns beobachtet?

Mit diesen Messungen kann man Nervenzellen quasi zuschauen, wie sie miteinander kommunizieren. Tatsächlich finden wir einzelne Zellen, die immer bei den gleichen Bedeutungen «feuern», zum Beispiel bei der Erinnerung an die eigene Grossmutter.

Neutrale Ereignisse vergessen wir oft wieder. Wenn wir Namen hören, die gut zum Gesicht passen, sind wir nicht überrascht.

Umgekehrt können wir von einer solchen Zelle ableiten, woran die Person gerade denkt. Diese Forschung gibt uns Hinweise darauf, dass es also eine «Grossmutter-Nervenzelle» gibt.

Warum erinnern wir uns nicht an alle Momente gleich gut und können uns beispielsweise Namen nicht merken?

Die emotionale Komponente hat einen grossen Einfluss. Ist das ein schöner Moment oder ein tragischer? Neutrale Ereignisse vergessen wir oft wieder. Wenn wir Namen hören, die gut zum Gesicht passen, sind wir nicht überrascht.

Über die ersten drei, vier Jahre des Lebens haben wir keine bewussten Erinnerungen. Warum genau?

Wir nennen das «Kindheitsamnesie». Ein Grund dafür ist, dass wir für Erinnerungen Sprache benötigen, also ein abstraktes Wissen über die Welt. Das ist ein Bett. Das ist ein Stuhl. Das ein Klavier.

Wir müssen für das, was wir erleben, Begriffe haben. Kinder beginnen erst im Alter von ein bis zwei Jahren zu reden und ihr Faktenwissen aufzubauen. Erst dann können sie auch ein Gedächtnis aufbauen.

Das Gespräch führten Matthias von Wartburg und Julia Lüscher.

Radio SRF 3, Input, 30.3.2025, 20:00 Uhr ; 

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