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Was bedeutet Intimität heute?
Aus Kulturplatz vom 25.09.2019.
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Was ist heute schon intim? Intimitäten, die man ausstellt, sind keine mehr

Warum unser Umgang mit Intimität echte Nähe verhindert. Und was man ändern könnte. Ein philosophisches Essay von Philipp Tingler.

Haben Sie ein Problem mit Nähe? Können Sie Intimität nur noch schwer zulassen? Schulen Sie deswegen Ihre Achtsamkeit? Dann sind Sie nicht allein. Und irgendwie doch. Und womöglich auf dem falschen Dampfer. Das muss ich Ihnen schonungslos gleich zu Beginn durchgeben.

Philipp Tingler

Autor

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Philipp Tingler, geb. 1970 in West-Berlin, ist Schriftsteller und Philosoph. Zudem ist er Kritiker im SRF Literaturclub, beim SRF-Format «Steiner & Tingler» und seit 2020 Juror beim Bachmann-Preis in Klagenfurt.

Wir werden später darauf zurückkommen. Vorher werfen wir einen Blick auf die Frage: Ist die Intimität in unseren Zeiten bedroht? Und ganz zuerst natürlich: Was ist eigentlich Intimität? Nein, nicht das, was Sie jetzt denken.

Harmonie und Zuneigung

Der Duden bietet als Synonyme an: Harmonie, Vertrautheit, Zuneigung. Das weist darauf hin: Intimität hat mit Transgression zu tun. Also mit dem Überschreiten der Grenzen des eigenen Ich.

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Und das bringt uns auch schon zum Problem. Denn der zeitgenössische Mensch scheint vor allem mit diesem Ich befasst, mit dessen Ausdehnung und Optimierung, aber nicht so sehr mit seiner Überschreitung in Richtung auf ein Gegenüber.

Wenn wir uns umgucken, sehen wir: Das neue Mass der Welt sind die authentischen Subjekte mit originellem Selbst und gepflegter Biografie. Jeder und jede will besonders sein. Und das besondere innere Selbst entdecken und kuratieren.

Ein Gesicht mit durch eine Art Lupe verzerrten Augen.
Legende: Ein Problem: Der moderne Mensch fokussiert vor allem auf die Optimierung seines Ichs, weniger mit dem Überschreiten von dessen Grenzen. Photocase/In.Mirja

Selbstverwirklichung – oder moderner: Selbstaktualisierung – in diesem Verständnis bedeutet, auf dem Wege der steten Verbesserung des Ich ein paar Hindernisse und Widerstände zu überwinden, Traumata und so weiter. Hat man das geschafft, steht man quasi auf der Spitze des inneren Bergs. Von wo der Ausblick hervorragend sein soll. Das ist das Ziel.

Kein brandneues Phänomen

Das ist das, was der Philosoph Hans Blumenberg bereits vor über einem halben Jahrhundert in einer Würdigung der Selbsthilfeliteratur den «selbstgemachten Menschen» nannte, kein brandneues Phänomen also.

Blumenberg schreibt weiter, die Idee der Selbstperfektionierung «verrät einen elementaren Defekt an unserer Stellungnahme zu uns selbst. Wir sind nicht mehr fähig, uns ‹mit schöner Selbstverständlichkeit› zu nehmen und zu geben». Sich selbstverständlich-vertrauensvoll zu geben und zu nehmen ist aber eine Voraussetzung souveräner, selbstbestimmter, erwachsener Intimität.

Die moderne Erfolgskultur

Und was passiert heute stattdessen? Der spätmoderne Mensch agiert vor dem Hintergrund einer Marktgesellschaft, die Zugangschancen und Wertschöpfungsmöglichkeiten tatsächlich längst weniger nach dem Leistungs- als vielmehr nach dem Lotterieprinzip zu verteilen scheint, sich also von der Leistungs- zur Erfolgskultur bewegt.

Zwei Frauen in Bikinis mit Kaugummiblasen.
Legende: Das Beste aus sich herausholen und dabei gute Laune haben: ein Dogma der Instagram-Gesellschaft. Getty Images / Wundervisuals

Diese Ausweitung des Erfolgsprinzips zusammen mit der Ausweitung des Wettbewerbs bedeutet für den Einzelnen und die Einzelne vor allem: Optimierungs- und Selbstdarstellungszwänge.

Die gesellschaftliche Ausweitung des Wettbewerbs bedeutet für den Einzelnen gefühlte Selbstdarstellungszwänge.

Heute sind, wie der Philosoph Robert Pfaller es ausdrückt, alle vorzüglich mit ihrer «Identitätskostbarkeit» und deren Steigerung und Zurschaustellung befasst. Mit der Ausstellung nicht nur des Körpers, sondern eben auch ihres inneren Selbst in seiner vermeintlichen Besonderheit.

Instagram als Gegenteil von Intimität

Instagram ist ein super Beispiel. Ich weiss, alle beziehen sich auf Instagram. Ich auch. Ich bin fasziniert von Instagram. Nicht nur, weil ich gerne die Selbstwahrnehmungen anderer Leute besichtige, sondern weil sich auf dieser Bilderplattform quasi Zustand und Richtung unserer Kultur verdichten.

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Damit meine ich: Für mich realisiert sich hier das, was die Essayistin Susan Sontag vor rund einem halben Jahrhundert für die Entwicklung der Fotografie prophezeite: Der Surrealismus ist zum Prinzip des Alltags geworden. Das ist eine gewaltige, epochale Verschiebung.

Ein Frau
Legende: Falsche Tränen und übertriebener Mascara in den «Tears» von Man Ray. Damals Surrealismus, heute Alltag auf Instagram. Getty Images / AFP / DOMINIQUE FAGET © Man Ray Trust / 2019, ProLitteris, Zurich

Damals, für Susan Sontag in den frühen 70er-Jahren, galt die Fotografie als mimetische, also nachahmende Kunstform. Heute hingegen ist sie pseudomimetisch.

Das heisst: Die Idee des Surrealismus, die Grenze zwischen Kunst und Leben zu verwischen, «zwischen dem Absichtsvollen und dem Unabsichtlichen, zwischen Professionellen und Amateuren, zwischen dem Erhabenen und dem Abgeschmackten, zwischen echtem handwerklichen Können und erfolgreicher Stümperei», wie Sontag schreibt, wird auf Instagram umgesetzt, jeden Tag, jeden Moment. Während Sie das hier lesen, wird auf Instagram ein Duplikat der Welt erzeugt, eine Wirklichkeit zweiten Grades.

Intimität zielt auf alles hinter den Kulissen

Philosophischer ausgedrückt: Die Welt wird durch eine zweite Ebene der Abbildung verdoppelt. Es kommt eine Oberfläche hinzu. Und diese Oberfläche fungiert als Intimitätsbarriere. Denn Intimität als Vertrautheit und Vertrauen zielt schliesslich auf alles hinter der Kulisse.

Die Momente, in denen man Menschen nahe ist, haben mit der Hintergehung von Oberflächen zu tun, eben mit Transgression, auch mit Transzendenz, mit der Welt jenseits der Erscheinungen.

Weil Schamlosigkeit Öffentlichkeit herstellt, ist sie nicht etwa mit einer Zunahme, sondern mit einer Preisgabe von Intimitäten verbunden.

Die Instagramwelt ist das Gegenteil von Intimität. Hier ist die Oberfläche alles, enthält alles. Interessanterweise trifft diese Oberflächenfixierung auch auf immer grösser werdende Abteilungen der zeitgenössischen Kunst zu, zum Beispiel auf Werke von Damien Hirst oder Jeff Koons. Und neuerdings auf Literatur, etwa bei Sally Rooney. Was dabei verloren geht? Dass die sinnlich erlebte Welt nur ein Prospekt ist, eine Folie, hinter der ungeheuerliche Prozesse ablaufen.

Das flüchtige Denkmal unserer Zeit

Instagram ist das flüchtige, ewig fliessende Denkmal einer Zeit, die den Körper und auch das vermeintliche Selbst als Investitionsprojekte verdinglicht hat. Der damit verbundene Wunsch nach Sichtbarkeit geht nicht selten auf Kosten der Scham.

Skulptur eines Mannes und einer Frau beim Beischlaf.
Legende: Schamlosigkeit in den 1990ern: Unter dem Titel «Made in Heaven» inszenierte sich der Künstler Jeff Koons mit seiner damaligen Frau Ilona Staller (auch bekannt als Cicciolina) beim Sex. Getty Images / AFP / ANDER GILLENEA

Weil die Schamlosigkeit Öffentlichkeit herstellt, ist sie nicht etwa mit einer Zunahme, sondern mit einer Preisgabe von Intimitäten verbunden, denn Intimität ist das Gegenteil von Öffentlichkeit. Sie wird nur möglich durch die Diskrepanz zwischen öffentlicher und privater Person. Intimitäten, die man ausstellt, sind keine mehr.

Die Sehnsucht nach Nähe

Natürlich existiert trotzdem – oder deshalb – eine starke Sehnsucht nach Intimität. Und damit wird grösstenteils wie folgt umgegangen: Intimitätsfantasien werden in Nullen und Einsen übersetzt, um sie als Muster- und Suchaufgabe von Algorithmen lösbar zu machen.

Mit der Übersetzung von Intimitätsbedürfnissen in einen binären Code sollen die Grauzonen des Schicksals eingezäunt werden.

Die Partnerwahl zum Beispiel erhält den Charakter eines Matching-Prozesses, was der Strukturlogik des Online-Liebesmarktes entspricht. Und der Strukturlogik des Wettbewerbs.

Der Arbeit an der eigenen Attraktivität, die den Körper als Investition und Projekt behandelt, entspricht bei der Intimitätsanbahnung der Wunsch nach Ausschaltung von Unwägbarkeiten und Kalamitäten – also dessen, was man früher «Schicksal» nannte. Dem will sich keiner mehr aussetzen.

Eine hübsche junge Frau lächelt in die Kamera, die Sonne umspielt ihr Gesicht.
Legende: Fotos müssen natürlich wirken und gleichzeitig unsere beste Seite zeigen. Millionen arbeiten auf Instagram daran. Getty Images / Martin Novak

Dieses neue Vorgehen bei der Intimitätssuche steht beispielhaft für einen Wechsel in der Selbstauffassung des Menschen in der Spätmoderne: Einerseits werden Emotionen zu einem wesentlichen Bestandteil wirtschaftlichen Verhaltens gemacht, etwa im Phänomen der sogenannten «Emotionalen Intelligenz», zum anderen wird unser emotionales Leben vermehrt der Logik ökonomischer Tauschbeziehungen unterworfen. Der Wettbewerb ist an die Stelle des Schicksals getreten.

Das Glück der Selbstüberwindung

Und jetzt? Wie kommen wir da wieder raus? Ist das Glück für uns unmöglich geworden? Nein. Wir müssen uns einfach von der doofen Idee verabschieden, dass Glücklichsein eine Art Ingenieursarbeit an der Seele bedeute, und zwar stets von Innen nach Aussen, nicht etwa umgekehrt. Also: Glücklichsein als Ziel einer Reise der Selbst-Entdeckung, nicht etwa als Ergebnis oder Nebenprodukt einer Interaktion mit der Welt.

Die Gefahr des Absturzes in den eigenen Seelenabgrund sieht offenbar niemand.

Das Glück als Ego-Trip – das ist der falsche Dampfer. Eine solche Glücksvorstellung basiert auf dem naiven Ideal emotionaler Unabhängigkeit statt auf der Idee von persönlicher Entwicklung im Umgang mit einem Gegenüber, also: durch Intimität.

Der falsche Dampfer wird befeuert durch das Dogma, dass gehaltvolle Zufriedenheit nur das Ergebnis einer gänzlichen Erforschung und Kenntnis des Selbst sein könnte, um dieses Selbst danach «authentisch» zu leben.

Ein Füller für unser Transzendenzdefizit

Die Gefahr des Absturzes in den eigenen Seelenabgrund sieht offenbar niemand. Es wird allgemein davon ausgegangen, dass der Mensch es bei sich selbst problemlos aushalten könne. Ich wage das zu bezweifeln. Die Chimäre des inneren Selbst als eines vermeintlich fixen, essenziellen Wesenskerns wird hier zum Fetisch, zum Füller eines Transzendenzdefizits, das auch und nicht zuletzt ein Intimitätsdefizit ist.

Glück liegt in der Selbstüberwindung, aber nicht im Schrittzähler-Sinn, sondern im Sinne der Abstandsnahme vom Ich, der Öffnung nach aussen.

Die Lösung ist also ausnahmsweise mal ziemlich einfach: Das Glück liegt vor der Tür. Es liegt nicht so sehr in der Nabelschau und Selbsterkundung, sondern draussen: in der Welt, im Zugehen auf andere. In Variation des bekannten Wortes von Sartre: Das Glück, das sind die anderen.

Glück ist auch: Abstand vom Ego

Glück liegt in der Selbstüberwindung, aber nicht im Schrittzähler-Sinn, sondern im metaphysischen Sinne der Selbsttranszendenz: Abstand vom Ego, Souveränitätsgewinne gegenüber dem Ich, Öffnung nach aussen. Selbstoptimierung ist Lebenstechnik, Selbstüberschreitung ist Lebenskunst. Nur Selbstüberschreitung ermöglicht Intimität. Oder, noch einfacher: Intimität geht nur mit anderen.

Was denn? Sie wollen das noch praktischer haben? Bitte sehr: Statt sich nächsten Donnerstagabend wieder im Achtsamkeitsstuhlkreis dem Lebensatem anzuvertrauen, gehen Sie einfach mal mit ein paar Menschen, die Ihnen am Herzen liegen, ein paar Dry Martinis trinken und tauschen sich darüber aus, dass Chrigi aus dem Qigong-Einführungskurs eine gewisse Ähnlichkeit hat mit Bruce Vilanch. Viel Spass!

Bruce mit muskulösem Bodysuit auf einer Bühne
Legende: Bruce Vilanch: Das Six-Pack über dem Speck – Selbstoptimierung als Pose. Getty Images / Presley Ann

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