Die Übergriffe auf Frauen in der Silvesternacht in Deutschland geben immer mehr zu reden. Mittlerweile sind 170 Anzeigen bei der Polizei eingegangen, rund 120 davon wegen sexuellen Übergriffen. Aber noch ist nicht genau klar, wer die Täter sind. Laut Augenzeugenberichten sollen die Männer nordafrikanischer oder arabischer Herkunft gewesen sein. Das lässt die Debatte einmal mehr ins Kraut der hinlänglich bekannten Stereotypen schiessen: Muslime = Sexismus = Macho-Kultur.
Stigmatisierung der Muslime
Die deutsche Publizistin türkischer Herkunft Kübra Gümüşay befasst sich seit Jahren mit Feminismus und Integration. Sie findet die aktuelle Debatte gefährlich, weil sie auf eine sehr symbolische, populistische und emotional aufgeladene Weise geführt werde: «Die Debatte fokussiert auf die Herkunft der Täter. Immer mit der Betonung, dass sie eventuell Muslime sein könnten oder aus muslimischen Ländern stammen.»
So werde suggeriert, dass sie sexistisch oder gewalttätig seien aufgrund ihrer Herkunft und ihrer Religion, sagt Kübra Gümüşay. Damit würden bestimmte Bevölkerungsgruppen stigmatisiert.
Für eine andere Debatte missbraucht
Kübra Gümüşay ärgert sich ausserdem über eine Verlogenheit der Debatte. Sie erinnert sich an die Sexismusdebatte vor drei Jahren. Damals hatte eine Gruppe von Feministinnen auf Twitter unter dem Hashtag #aufschrei auf Sexismus und Gewalt gegen Frauen in Deutschland aufmerksam gemacht. Viele konservative Stimmen hätten damals das begründete Anliegen nicht ernst genommen, es lächerlich gemacht. Dieselben Stimmen, so Gümüşay, würden jetzt Sexismus in einen Zusammenhang mit dem Islam setzen: «Sexismus wird missbraucht, um bestimmte politische Debatten zu führen, um bestimmte Stereotypen zu kreieren. Das finde ich falsch.»
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Für die deutsch-türkische Journalistin ist die Stigmatisierung auch deshalb problematisch, weil es sehr viel Energie bedürfe, sich daraus zu befreien. Kübra Gümüşay: «Man verhindert so auch Emanzipationsbewegungen innerhalb der muslimischen Bevölkerung. So kann es keine muslimischen Feministinnen geben, damit negiert man auch eine grosse intellektuelle Bewegung.»
Die Sexualität als Tabu
Auch die gebürtige Tunesierin Saïda Keller-Messahli, Präsidentin des Forums für einen fortschrittlichen Islam, räumt ein, dass es problematisch sein kann, sich auf die Identität der Täter zu fixieren. Das ändert für sie aber nichts daran, dass im Verhältnis der Geschlechter ein Problem bestehe.
«Wir dürfen auch nicht ausblenden, dass die patriarchalischen Strukturen gerade in der islamischen Gesellschaft besonders hart sind. Die Frauen in vielen islamisch geprägten Gesellschaften kämpfen darum, ihre Rechte leben zu können – und nicht als minderwertig und Bürger zweiter Klasse zu gelten. Es ist leider so, und es tut mir wirklich weh, das sagen zu müssen.»
Dazu komme, dass die Sexualität ein Tabu sei, sagt Keller-Messahli. Es dürfe keine sexuellen Beziehungen ausserhalb der Ehe geben. Allein das sei schon eine Bürde für sehr viele, gerade für junge Menschen. Saïda Keller-Messahli: «Es ist eine Tatsache, die das Verhältnis zum Körper der Frau bzw. dem des Mannes total stört. Daraus folgen etliche soziale und auch familiäre Probleme. Das ist eine Realität in der islamischen Gesellschaft.»
Negativ besetztes Frauenbild von früh an
Für Saïda Keller-Messahli ist klar, dass die Debatte geführt werden muss. Man solle hinstehen und sagen «Ja, wir haben ein Problem in diesem Bereich». Man könne den Muslimen zumuten, dass sie selbstkritisch seien. Angst vor einer Stigmatisierung müsse man ihrer Meinung nach nicht haben.
Die Frage ist, wo man ansetzen könnte, um das Problem zu lösen. Keller-Messahli: «Bei der Erziehung. Es ist leider so, dass Knaben sehr oft ein überhöhtes Männerbild und ein negativ besetztes Frauenbild mitbekommen. Viele Probleme haben ihren Ursprung in diesen Bildern, in der Vorstellung, dass ein Mann – weil er als Mann geboren wurde – mehr gilt, mehr Freiheiten und Rechte geniesst. Diesem Thema müssen wir uns annehmen.»