Immer wieder packen, immer wieder Abschied nehmen. Oft sind es nach einer Trennung die Kinder, die zwischen den Eltern hin und her wechseln. Dani und Annemarie wollten das ihren beiden Söhnen ersparen.
Deshalb entschieden sie sich für das Nestmodell: Die Kinder bleiben weiterhin in der gemeinsamen Familienwohnung. Die Eltern wechseln sich bei der Betreuung ab, tage- oder wochenweise, und suchen sich für die restliche Zeit eine andere Bleibe.
«Seid ihr wirklich getrennt?»
«Ihr wohnt noch zusammen? Dann seid Ihr ja gar nicht wirklich getrennt.» Das bekommen Dani und Annemarie oft zu hören, wenn sie versuchen, ihr Familienmodell zu erklären.
Seit vier Jahren sind sie kein Paar mehr. Doch sie teilen weiterhin ein Zuhause, eine Agenda und ein Konto. Eine Lebensform, für die es in der Schweiz nicht viele Vorbilder gibt.
Tendenz geht zum Wechselmodell
Die meisten Familien leben nach einer Trennung mit dem klassischen «Residenzmodell»: Die Kinder wohnen bei einem Elternteil, meist bei der Mutter. Beim Vater sind sie übers Wochenende zu Besuch.
Die Tendenz geht aber zunehmend zum «Wechselmodell», das in vielen europäischen Ländern bereits als Leitbild verankert ist: Die Kinder pendeln zwischen den Haushalten beider Eltern. Auch Schweizer Gerichte sind seit drei Jahren dazu angehalten, bei Trennungen die Möglichkeit der alternierenden Obhut zu prüfen, wenn ein Elternteil oder ein Kind das wünscht.
Weg von der Idee des «Besuchsonkels»
Die Grenzen zwischen Residenz- und Wechselmodell verschwämmen zusehends, sagt Jonas Schweighauser, der Familienrecht an der Universität Basel lehrt: «Es wäre schon lange an der Zeit, dass wir von ‹betreuenden Eltern› sprechen. Dann geht es darum, die jeweiligen Anteile an der Betreuung anzuschauen.»
Die deutsche Familienpsychologin Marianne Nolde unterstützt diese Idee: «Wenn man von Betreuungsanteilen spricht, bringt das auch den Elternteil, der anteilsmässig weniger betreut, in die Elternrolle – weg von der Idee des ‹Besuchsonkels›.»
Kinder wollen weiterhin beide Eltern lieben
Allerdings: Die geteilte Obhut funktioniert nur, wenn die Eltern einen guten Umgang haben. Zu diesem Schluss kam eine interdisziplinäre Studie der Universität Genf, die im Auftrag des Bundesrates vor drei Jahren erhoben wurde.
«Feindseligkeiten zwischen den Eltern sind belastend für Kinder», sagt Marianne Nolde: «Wie es ihnen in einer Trennungssituation geht, hängt stark davon ab, ob die Eltern ihre Konflikte gütlich lösen können.»
Es sei wichtig für Kinder zu merken, dass sie niemanden verlieren, sondern beide Eltern weiterhin lieben können.
Das Nestmodell ist anspruchsvoll
Die Kommunikation in einer Trennungssituation ist eine Herausforderung für die Eltern. Deshalb ist das Nestmodell nach wie vor selten, obwohl es grosse Vorteile für die Kinder hat: «Die Nähe, die das von den Eltern verlangt, halten viele Paare nach einer Trennung nicht aus», sagt Marianne Nolde.
Wenn das Nestmodell einen Elternteil zu stark belastet, sei den Kindern damit nicht gedient. Doch: «Eltern, die das leisten können – und sei es nur für einen gewissen Zeitraum nach der Trennung –, können ihren Kindern mit dem Nestmodell den Übergang erleichtern.»
«Ich vermisse die alten Zeiten nicht»
Bei der Umstellung auf das Nestmodell vor vier Jahren war der jüngere Sohn von Dani und Annemarie sechs Jahre alt: «Zuerst fand ich es mega schlimm, dass sie sich getrennt haben», sagt Roméo. «Aber dann merkte ich, dass sich gar nicht so viel ändert.»
Emile, sein älterer Bruder, war damals neun. Er erlebte die Trennung als Einschnitt, sagt aber im Rückblick: «Ich vermisse die alten Zeiten nicht.»
Mit dem Wechselrhythmus der Eltern kommen Roméo und Emile gut klar, auch wenn er kompliziert klingt: Dani betreut die Kinder während einem bis zwei Tagen pro Woche, Annemarie in der Regel einen Tag mehr. An den Wochenenden wechseln sie sich ab. Wichtige Anlässe wie Geburtstage feiern sie weiterhin zu viert.
«Wir haben viel über Kommunikation gelernt»
Dani und Annemarie sind sich einig: «Wir haben mit dem Nestmodell viel über Kommunikation gelernt.» Die grösste Schwierigkeit seien die vielen Absprachen, die es bei den Übergaben der Kinder braucht, damit der Überblick über alle Bedürfnisse und Termine nicht verloren geht.
Wer sorgt für das Picknick am Sporttag? Wer ist verantwortlich dafür, dass Milch im Kühlschrank ist? Hält man es aus, sich um die Wäsche des Ex-Partners zu kümmern? Oder trennt man besser die Wäschekörbe? Das abwechslungsweise Wohnen im gleichen Haushalt erfordert die Organisation unzähliger Details.
Wenn möglich eigene Zimmer
Es braucht viel Toleranz und die Bereitschaft, weiterhin in denselben Räumen zu leben wie der Ex-Partner. Dabei hilft es, finden Annemarie und Dani, wenn genügend Platz vorhanden ist, sodass man nicht im gleichen Schlafzimmer übernachten muss.
Und man sollte klären, ob man neue Partnerinnen und Partner mit ins gemeinsame Nest bringen darf. Für alle Beteiligten ist das eine emotionale Herausforderung.
Wer kann sich das Nestmodell leisten?
Kann sich eine durchschnittliche Familie das Nestmodell überhaupt leisten? Immerhin braucht es dafür drei Wohnungen. Da Dani und Annemarie eine günstige Genossenschaftswohnung und keine hohen Ansprüche haben, geht die Rechnung auf: Dani lebt, wenn er nicht bei den Kindern ist, in einer Einzimmerwohnung, Annemarie in einer Mansarde.
«Oft scheitert der Wunsch nach dem Nestmodell an der Wohnsituation», sagt Jonas Schweighauser, der Paare in Trennungssituationen berät. Besonders nachgefragt sei das Nestmodell allerdings nicht.
Es fehlt an Erfahrung
Noch fehle es Beratungsmöglichkeiten, sagt Dani. Ihm wurde auf einer Fachstelle aus finanziellen Gründen vom Nestmodell abgeraten, weil es keine klare Vorlage gibt, wie der Unterhalt geregelt werden soll.
Eltern, die sich für das Nestmodell entscheiden, müssen ihren eigenen Weg finden. «Wir merken immer wieder, dass wir nicht in eine Schublade passen, sei es auf Ämtern oder in den Köpfen der Menschen», erzählen Dani und Annemarie. Sie haben beschlossen, das als Freiheit zu betrachten: «Wir konnten unsere Schublade selbst zimmern».