Die Fernsehjournalistin Golineh Atai war fünf Jahre alt, als sie 1980 an der Hand der Mutter aus dem Iran ins Exil flüchtete. Ihre Mutter sei fassungslos gewesen angesichts dessen, was nach dem Sturz des letzten Schahs, Mohammed Reza Pahlevi, 1979 im Iran passierte.
Als Revolutionsführer Ajatollah Chomeini die Macht übernahm, erliess er als Erstes ein restriktives Scheidungsgesetz und nahm den Iranerinnen das Wahlrecht wieder weg, das sie 1963 – acht Jahre vor den Schweizerinnen – errungen hatten.
Golineh Atai erinnert sich an das Entsetzen ihrer Mutter. Die Grossmutter wurde damals als Angestellte im Staatsdienst entlassen. Sie bekam mit, wie ihre oberste Vorgesetzte, die Bildungsministerin, von den islamistischen Revolutionären hingerichtet wurde. «Erst erhängt und dann erschossen», so die Journalistin.
Die aktuellen Proteste im Iran gehen auf eine jahrzehntelange Unterdrückung und Entrechtung von Frauen zurück. Die Feindschaft gegenüber Frauen gehöre zu den politischen Grundpfeilern der Islamischen Republik Iran, hält die Iran-Spezialistin fest: «Die Mullahs haben Angst vor den Frauen.»
Eine neue Dimension
In den letzten 20 Jahren ist es im Iran immer wieder zu Protesten gekommen. Die aktuellen Aufstände nehmen aber eine neue Dimension an, wie Golineh Atai erklärt: «Wir sehen zum ersten Mal, dass diese Proteste nicht unter dem Vorzeichen der Religion stattfinden.»
Religiöse Symbole und Zitate würden bei den Demonstrationen gänzlich fehlen. Selbst gläubige, verschleierte Iranerinnen gingen auf die Strasse, ohne sich auf die Religion zu beziehen. Der einzige Massstab sei das Unrecht, das der Bevölkerung angetan wird: «Der Schmerz ist die Kraft der Protestierenden.»
Proteste bis in die Provinz
Hinzu komme, dass die Menschen nicht nur in Teheran auf die Strasse gehen, sondern auch in der Provinz, von Kurdistan im Nordwesten bis Sistan und Belutschistan im Südosten. Damit sind erstmals viele Ethnien gemeinsam an den Protesten beteiligt.
An den Aufständen und Streiks beteiligen sich Menschen aus allen Schichten: Ladenbesitzerinnen und Lastwagenfahrer ebenso wie die Arbeiter der Petrochemie in Sanandadsch, die in den letzten Wochen tageweise gemeinsam die Arbeit niederlegten. Somit sei eine neue Dimension des Protests erreicht, ist Iran-Expertin Atai überzeugt.
Frauen fallen dabei durch besonders mutige und explizite Widerstandsformen auf: Manche von ihnen stellen sich vor die Gefängnisse und fordern die Entlassung ihrer Angehörigen. Andere lassen in aller Öffentlichkeit das Kopftuch fallen.
Mit Slipeinlagen gegen das System
Dabei greifen sie auch zu unkonventionellen Mitteln: Sie kleben die Linsen der Überwachungskameras im öffentlichen Raum mit Slipeinlagen zu. Damit konfrontieren sie Männer mit der Existenz des weiblichen Körpers, den die Mullahs zum Verschwinden bringen wollen, und unterlaufen zugleich das System.
Was sich Frauen bei ihren Protesten einfallen lassen, überrascht sogar die Nahost-Korrespondentin: So sprayen sie etwa derbe Slogans auf Mauern und konfrontieren die Revolutionsgarde auf offener Strasse lautstark mit Obszönitäten.
Diese Ausdrucksformen legen offen, wie gross die Wut der Frauen wegen der täglichen Diskriminierung mittlerweile ist. Golineh Atai spricht von einer Revolution in den Köpfen, von einer Revolution der Werte – diese habe längst begonnen und sei nicht mehr umkehrbar.