Zum Inhalt springen
Video
Kunstproteste in Russland, obwohl Geld- und Haftstrafen drohen
Aus Sternstunde Kunst vom 26.02.2023.
Bild: SRF abspielen. Laufzeit 52 Minuten 6 Sekunden.

Widerstand in Russland Künstler rebellieren gegen Putin – und riskieren ihre Freiheit

Sie haben Angst und bleiben trotzdem wehrhaft: Mit Anti-Kriegs-Aktionen rebellieren Künstlerinnen gegen den russischen Staatsapparat – und begeben sich dabei in grosse Gefahr. Ein Erfahrungsbericht aus Russland.

Ja, es gibt sie: Russinnen und Russen, die nicht einverstanden sind mit Putins System. Die sich mit all ihren Mitteln gegen die Regierung auflehnen und sich nicht einschüchtern lassen.

Auch wenn es fast unmöglich geworden ist, in Russland gegen die Regierung zu protestieren. Die Antikriegsproteste werden in ganz Russland seit Februar 2022 mit brutaler Polizeigewalt aufgelöst. In St. Petersburg treffe ich eine Künstlergruppe, die dennoch weitermachen will.

Die St. Petersburger Künstlergruppe «YAV»

Sie klettern auf Dächer in Petersburg und streifen in verlassenen Fabrikhallen umher – immer auf der Suche nach einem Ort für ihre Botschaften. Die richten sich mal mehr, mal weniger subtil gegen das russische System der Angst. In der Hoffnung, auch ihre Mitmenschen zum Protest zu bewegen.

Dachaufbau mit russischem Graffiti.
Legende: Anti-Kriegs-Botschaft des Kollektivs zieren die Dächer der Stadt. Hier steht: «Hallo, Ausserirdische! Kommt erstmal nicht zu uns. Ich schäme mich für die ‹Z›-Leute.» Roman Schell

«YAV», auf Deutsch: «Wirklichkeit», nennt sich die Gruppe junger Menschen, die sich mit Graffitis, Plakaten, Videos, Performances und digitalen Aktionen gegen den Staatsapparat wehren.

Obwohl ihre Botschaften im öffentlichen Raum schnell übermalt werden und ihnen für ihre Aktionen bis zu zehn Jahren Lagerhaft drohen, lassen sie sich nicht einschüchtern. Sie versuchen gar nicht erst, anonym zu bleiben, sondern gehen in die Offensive: Sie reden mit westlichen Medien reden.

Schatten gegen Putins Drohungen

Ich begleite «YAV» bei einer Aktion in einem verlassenen Petersburger Innenhof. Auf die Wände sprühen die Künstlerinnen und Künstler ein Dutzend Menschenschatten.

Diese Schatten sind Symbole für die zehntausenden Menschen, die in diesen Kriegstagen Russland verlassen – wegen der zunehmenden Repressionen und Perspektivlosigkeit. Die Schatten stehen auch für Menschen, die sterben würden – bei einem von Putin angedrohten Atomschlag.

Video
Das Kollektiv «YAV» erhebt seine Stimme gegen Putin
Aus Kultur Webvideos vom 20.10.2022.
abspielen. Laufzeit 2 Minuten 32 Sekunden.

«Es ist, als würdest du erfahren, dass dein Vater ein Serienmörder ist», erklärt der Künstler Alex Voronin: «Du liebst ihn zwar, aber der Umgang mit der neuen Situation ist alles andere als einfach.» Deswegen brauchten die Menschen ihre Kunst, sagt Voronin: «Die Leute sollten wissen, dass andere ähnliche Gefühle wie sie haben.»

Die Leiterin der Gruppe, Anastasiia Vladychkina, hat aus Sicherheitsgründen bereits das Land verlassen und lebt im Exil. In Russland würde ihr eine Haftstrafe drohen. «Vor dem Krieg hat unsere Kunst ein bis drei Jahre überlebt. Dann wurden die Werke immer schneller übersprüht – nach einem Monat, einer Woche. Inzwischen überleben unsere Arbeiten maximal fünf Stunden», erklärt sie.

Der Staat hat das Sagen

Schon am nächsten Tag sind die Schatten an der Hauswand von russischen Behörden übermalt worden. Die Botschaft ist deutlich: Der Staat kontrolliert die Strassen.

Überall in Petersburg sieht man Schilder mit nur einem Buchstaben darauf: Z. Mit diesem «Z» haben die russischen Truppen ihre Panzer beim Einmarsch in die Ukraine gekennzeichnet. In der Stadt verteilt findet man auch metergrosse Porträts von russischen Militärs: «Ruhm den Helden», steht unter den Fotos der uniformierten Männer.

Ein Leben auf Autopilot

«Es ist nicht mehr möglich, in Russland zu leben und zu planen», sagt Alex Voronin. Bei jedem zweiten seiner Bekannten sei eine Depression diagnostiziert worden: «Die Leute leben ihr Leben wie auf Autopilot. Sie gehen zur Arbeit und wieder nach Hause. Keiner von ihnen weiss, was sie tun sollen.»

Graffitis auf einer heruntergekommenen Mauer.
Legende: Die Antwort auf die von den Behörden übersprühten Anti-Kriegs-Graffitis lautet: «Hier wurden alle Anti-Kriegs-Graffitis übermalt. Ein Hakenkreuz direkt nebenan wurde dagegen nicht angefasst. Das ist alles, was man im Jahr 2022 über dieses Land wissen muss – das Land, das die Nazis besiegt hat.» Roman Schell

60 Prozent mehr Antidepressionsmittel als im Vorjahr wurden in Russland in diesen Tagen verkauft. Die Russinnen und Russen machen sich Sorgen um ihr Leben und ihr Land, das endgültig zum Polizeistaat und zur Militärdiktatur geworden ist.

Nur knapp der Haft entkommen

Bei einer waghalsigen Aktion wurden die «YAV»-Mitglieder vorübergehend festgenommen – zusammen mit mir. Am frühen Morgen sprühten sie «Goolag, wie kommt man hier raus?» auf eine Wand.

Kunstwerk auf einer Mauer mit dem Titel «Goolag, wie kommt man hier raus»
Legende: Das letzte politische Werk von Alex Voronin in Petersburg. Beim Sprühen des Bildes wurde der Künstler Alex abgeführt. Roman Schell

Das metergrosse Bild erinnert an die Google-Startseite – nur, dass es auf sowjetische Arbeitslager verweist. Ein Polizeifahrzeug mit Blaulicht hält an. Vier Polizisten springen raus, führen uns ab und bringen uns zum Polizeirevier. Ein Geheimdienstler macht Fotos von uns – ohne Zustimmung. Mir wird das Handy aus der Hand gerissen.

Wir alle kommen vorerst mit einer Geldstrafe davon. Allerdings bleibt es nicht dabei: Telefonisch lädt die Polizei alle beteiligten Personen erneut vor. Vermutlich als Vorbereitung auf ein Strafverfahren. Alex verlässt die Künstlergruppe «YAV» und taucht unter, um nicht im Gefängnis zu landen.

Das Moskauer Theater «DOC»

Die Regisseurin Irina Wolkowa veranstaltet im Moskauer Theater «DOC» eine geheime Aufführung zum Ukraine-Krieg. Sie will unter dem Deckmantel der Kunst Diskussionen über den Ukraine-Krieg anstossen. Das Stück heisst «Messenger». Für jeden Satz bei der Probe könnte sie im Gefängnis landen.

Die Inszenierung basiert auf Gesprächen, die verschiedene Menschen aus der Ukraine und aus Russland in den ersten Tagen des Ukraine-Kriegs auf sozialen Netzwerken geführt haben. Gedanken, die sich in Russland inzwischen kaum noch jemand auszusprechen traut. Jeden Satz könnten die russischen Behörden als «Diskreditierung der russischen Armee» deuten. Dafür droht eine Geld- oder gar Haftstrafe.

Ein Theater als Insel der Freiheit

«Dieses Theater ist das freigeistigste und unabhängigste in ganz Russland. Das Ukraine-Stück spielen wir spät abends, nach den offiziellen Vorstellungen. Jede Aufführung ist ein Risiko für das Theater. Doch dieses Haus soll als Insel der Freiheit aufrechterhalten werden», erklärt die Regisseurin.

Zuschauer:innen bei einer Vorführung im Theater «DOC»
Legende: Eine geheime Aufführung im Theater «DOC» um 22:00 Uhr. Von dem Stück erfahren die Leute überwiegend durch Mund-zu-Mund-Propaganda. Zum Schutz der Personen haben wir ihre Gesichter unkenntlich gemacht. Roman Schell

Diese Insel der Freiheit gibt es seit 2002. Es behandelt überwiegend aktuelle politische und soziale Themen in Russland: die Einschränkungen der Pressefreiheit, Propaganda, Diktatur, Militarismus, Stalins Repressionen oder Genderfragen. Die Aufführungen sind satirisch, scharfzüngig, regierungskritisch und basieren oft auf echten Ereignissen, Dokumenten, Berichten und Interviews.

Die Inszenierungen haben dem Theater schon viel Ärger eingehandelt. Es gibt immer wieder Störmanöver und Einschüchterungsversuche. Dreimal musste das Theater seinen Standort wechseln, weil dem Ensemble gekündigt wurde.

Zitate aus dem Theaterstück

Box aufklappen Box zuklappen
  • Frau aus Russland: «Manche schreiben auf Facebook: Ihr seid schuld, eure Kultur hat Putin zur Welt gebracht. Olga, ihn hat eine Frau zur Welt gebracht, nicht unsere Kultur. Wir haben seit Jahren keine freien Wahlen mehr. Er wählt doch sich selbst. Das sollte jedem klar sein.»
  • Mann aus Russland: «Ich habe in Moskau keine Aktionen für den Krieg gesehen. Nur ein paar Idioten mit «Z»-Zeichen. Ich habe sehr grosse Angst davor, auf eine Antikriegs-Demo zu gehen. Alles ist unklar. Man droht den Demonstranten mit strafrechtlicher Verfolgung. Viele wollten protestieren – ich auch. Aber die Polizei erstickt jeden Protest im Keim.»
  • Mann aus der Ukraine: «Schau dir die ukrainischen Nachrichten im Netz an. Dann wird dir alles klar. Wir haben die russischen Nachrichten geguckt und waren schockiert – man nennt uns dort ‹Faschisten›.»
  • Frau aus der Ukraine: «Es gibt Sachen, die man unter keinen Umständen machen sollte. Man sollte nicht in der Nähe eines Atomkraftwerkes Kampfhandlungen durchführen. Dies ist eine Gefahr für die ganze Welt!»

Weitere Aufführungen von Irina Wolkowa zum Ukraine-Krieg finden vorerst nicht statt. Die Truppe hat im September Drohungen von Sicherheitsbehörden bekommen.

Aufgeben ist keine Option 

Auch ich musste meine Arbeit hier abbrechen und in die EU fliehen. Von meiner Moskauer Nachbarin erfahre ich, dass die Polizei abends vor meiner Wohnungstür stand und nach mir gefragt hat. Zudem habe ich eine Drohung vom russischen Geheimdienst FSB bekommen.

Die Sicherheitsbehörden verhören die Kunstschaffenden von der Schatten-Aktion. Die meisten Fragen betreffen meine Person: Wer ich bin, was ich mache, welche Reportagen bei mir in Planung seien. Dieses Mal bin ich glimpflich davongekommen. Die Aktivisten und Aktivistinnen auch. Die Künstlergruppe «YAV» und das Theater «DOC» planen währenddessen schon ihre nächsten Aktionen.

«Ich bin in Russland ein Staatsfeind»: Schell über die Festnahme

Box aufklappen Box zuklappen
Legende: Roman Schell auf dem Polizeirevier in St.Petersburg. Roman Schell

Der deutsch-russische Doppelbürger Roman Schell berichtet als freier Journalist und Filmemacher für den deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunk aus Osteuropa. Derzeit befindet er sich in Deutschland.

SRF: Sie wurden während der Dreharbeiten festgenommen. Was ist passiert?

Roman Schell: Wir wurden mit einem Strafverfahren bedroht. Es wurde gesagt, es sei ein
politischer Fall. Ich hatte grosse Angst, denn ich war drei Monate lang an der ostukrainischen Front. Ich hatte Angst, dass die Russen das herausfinden. Dafür hätte ich im Knast landen können. Die Russen hätten das als Diskreditierung aufgefasst.

Was geschah danach?

Der russische Geheimdienst drohte mir, ich würde im Knast landen, wenn ich weiter filme. Ich nahm diese Drohung sehr ernst. Die Polizei kam am nächsten Tag an meine Haustür. Da war ich aber schon an der russisch-lettischen Grenze und konnte das Land verlassen. Mein Handy wurde mir weggenommen, auch die Daten. Sie wollten auf keinen Fall, dass die Welt diese Bilder sieht.

Sie sind Doppelbürger von Russland und Deutschland. Bestand die Gefahr, dass Sie eingezogen werden?

Damit haben sie uns gedroht. Die grösste Bedrohung war, in die Armee eingezogen zu werden. Sie wollten mich zur Verantwortung ziehen für die Dinge, die ich in der Ukraine getan hatte. Ich bin in Russland ein Staatsfeind. Ich wandte mich an die Polizei hier in Deutschland, um Schutz zu bekommen. Das alles ist noch in Diskussion. Der Geheimdienst hat lange Arme. Sie verzeihen solche Sachen eigenen Staatsbürgern nicht.

Sie haben die Mitglieder von «YAV» in einem absoluten Ausnahmezustand erlebt. Was haben Sie von ihnen gelernt?

Ich habe gelernt, zu leben. Die Menschen trauen sich, zu leben. Sie wollen weitermachen.

Werden Sie zurückkehren?

Ich kann nicht mehr zurück. Ich werde sofort festgenommen an der Grenze. Ich bin weiterhin dran, die Künstlergruppe schickt mir Bilder und Videos von ihren Aktionen. Ich möchte Künstlerinnen und Künstler aus Russland in Deutschland und Lettland begleiten. Mehrere Freunde versuchen, Russland zu verlassen, aber sie wisse nicht wie. Die Mobilmachung läuft. Ich versuche alle, so gut ich kann, zu unterstützen.

Das Gespräch führte Nino Gadient.

SRF 1, Sternstunde Kunst, 16.10.2022, 12:00 Uhr

Meistgelesene Artikel