«1968 war in der DDR ganz anders als im Westen. Man könnte sagen, es handelt sich um zwei verschiedene Erzählungen zu jenem Jahr», sagt Robert Grünbaum von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Berlin.
Alles beginnt mit dem Bau der Mauer 1961. Fortan leben zwei deutsche Staaten Rücken an Rücken, die sich aber nicht ganz aus den Augen verlieren: Im Westen schielte man gerne nach «drüben», um sich überlegen zu fühlen, im Osten dagegen ist man regelrecht fixiert auf den Westen, meint Robert Grünbaum:
«Die Menschen in der DDR waren in ihrem Denken und Fühlen immer auf den Westen ausgerichtet. In den 1950er-Jahren konnte man noch aus eigenem Erleben vom Westen berichten. Nach der Mauer gab’s immer noch Radio und Fernsehen. Da merkte man, dass die Lebensverhältnisse doch gravierend unterschiedlich waren.»
Angst und Freude mischten sich
Im Westen war das Leben bunter. Man hatte Freiheiten – sogar die zu protestieren. Genau das tat die westliche Jugend 1968, was im Osten genau beobachtet wurde.
Proteste waren ohne persönliche Konsequenzen undenkbar.
Je nach Bevölkerungsgruppe nahm man die Proteste unterschiedlich wahr. Die Sozialistische Einheitspartei Deutschland (SED) freute sich anfangs, sagt Grünbaum: «Man sah in den Jugendlichen, die gegen den Vietnamkrieg protestieren, Verbündete im Krieg gegen den weltweiten Imperialismus. Aber man hatte auch Angst, die Revolte könnte in die DDR überschwappen.»
«Man wünschte sich Reformen, keine Revolution»
Die breite Bevölkerung dagegen wunderte sich, sagt Robert Grünbaum. «Die Menschen in der DDR hatten für die Wünsche der protestierenden Jugendlichen nach einer sozialistischen Revolution kein Verständnis. Man wünschte sich Reformen der bestehenden sozialistischen Verhältnisse, keine Revolution. Drum hatte man fast Mitleid mit den jungen Leuten, die mit Mao-Plakaten über den Ku’damm liefen.»
Man diffamierte langhaarige Jugendliche als Gammler und bezeichnete Rockbands als Agenten des Klassenfeindes.
Jugendliche in der DDR wiederum hatten Bedürfnisse, die jenen ihrer westlichen Cousins entsprachen: «Man wollte jung sein, tanzen und Musik hören. Man war gegen geistige Enge und Gängelei der Gesellschaft – also ähnlich wie im Westen. Nur war die DDR eben eine Diktatur. Protest war ohne persönliche Konsequenzen undenkbar.»
Die SED spielte ständig mit den Zügeln: Man musste den Bürgerinnen und Bürgern etwas bieten, gleichzeitig war man besorgt, das System zu gefährden. So gab es Momente der Liberalisierung, man hörte etwa die Beatles im Ost-Radio. Gleichzeitig diffamierte man langhaarige Jugendliche als Gammler, bezeichnete Rockbands als Agenten des Klassenfeindes oder belegte sie mit Auftrittsverboten.
Ein Film als Illusion
Wie sich die SED das Bild des Lebens in der DDR wünschte, zeigt der Film «Heisser Sommer» von 1968. Man sieht selbstbewusste, modische Menschen, es wird gesungen, getanzt, geliebt, mit den Schlagerstars Chris Doerk und Frank Schöbel in den Hauptrollen. Dass der Film in der DDR spielt, merkt man höchstens an den Autos.
Robert Grünbaum: «Dieser Film zeigte das Lebensgefühl einer Generation, ohne politisch zu sein. Seine Ideologie ist die Abwesenheit einer Ideologie. Darum der riesige Erfolg: Es war grossartige Unterhaltung, der Film war professionell auf internationalem Niveau. Die Botschaft war: Schaut her, wir können das auch!»
Hoffnung auf Öffnung zerschlägt sich
In der Realität sah der «heisse Sommer» anders aus. Zwar war in der Tschechoslowakei mit dem Prager Frühling eine Zeit der Öffnung angebrochen. Plötzlich durfte man offen und frei reden. Auch das wurde in der DDR genau beobachtet.
Doch als im August Sowjet-Truppen in die Tschechoslowakei einmarschierten, wurden die Hoffnungen der Menschen in der DDR auf einen Sozialismus mit menschlicherem Antlitz zerschlagen. Wer protestierte, wurde bestraft.
Etwa Toni Krahl, der spätere Sänger der Rockband City. Er wurde 19-jährig wegen Protestaktionen zu drei Jahren Haft verurteilt. Sein Vater, der Abteilungsleiter bei der sozialistischen Tageszeitung «Neues Deutschland» war, wurde ins Archiv versetzt. Das Jahr 1968 endete in der repressiven Realität der DDR.