Es ist ein warmer Freitagabend im August 1969. Michele und Luigi haben auch heute wieder unter der sengenden Sonne auf der Baustelle für einen schlechten Lohn geschuftet und Überstunden gesammelt. Einen Teil ihres Lohnes werden sie ihren Eltern nach Süditalien schicken.
Sie sind nach der Arbeit in ihre Baracken zurückgekehrt, haben sich dort im gemeinsamen Bad mit kaltem Wasser gewaschen – weil Warmwasser zu teuer ist –, etwas Brot mit Wurst gegessen und ihren besten und einzigen Anzug angezogen.
Danach laufen sie in die Stadt, um das Geld für den Bus zu sparen und um ein Glas Wein in einem Lokal zu trinken. Und wer weiss, vielleicht auch, um neue Bekanntschaften zu machen, oder sogar eine Frau kennenzulernen.
Vor dem Lokal angekommen, versperrt ihnen eine Tafel den Eingang. Die Worte «Für Hunde und Italiener verboten» machen unmissverständlich klar, dass sie im Lokal nichts zu suchen haben. «Che porcheria, ci trattano come cani!», empört sich Michele – es sei eine Schweinerei, dass sie wie Hunde behandelt würden.
Sie wagen es trotzdem und treten ein. Kaum sind sie drin, werden sie mit schiefen Blicken angeschaut. Einige stämmige Männer gehen erbost auf sie zu und um das Schlimmste abzuwenden, erscheint nun auch der Wirt und schreit sie an: «Furt mit eu! Mir wänd da kei Sau-Tschingge!»
Mit gebrochenem Stolz, wütend und traurig machen sich die beiden schweigend auf den Rückweg in ihre Baracken. «Non ci possono vedere, vogliono solo che lavoriamo come le bestie», sagt Michele nach einiger Zeit traurig – man könne sie nicht leiden, sie sollten nur wie Tiere arbeiten. Luigi fügt betroffen hinzu: «Sono tutti con Schwarzenbach» – sie folgen alle Schwarzenbach.
«Cinkali»
Als kleiner Bub hörte ich bei den sonntäglichen gemeinsamen Familienessen wie meine Onkel und Tanten solche Geschichten über die Zeit der Schwarzenbach-Initiative erzählten. Geblieben sind mir insbesondere zwei Wörter: Schwarzenbach und «Cinkali».
Dass Schwarzenbach eine berüchtigte Figur war, verstand ich aus den Gesprächen der Erwachsenen, aber was «Cinkali» bedeutete, wusste ich immer noch nicht. Als ich meine Mutter danach fragte, sagte sie mir, dass das ein unschönes Wort für uns Italiener sei.
Dass wir in den Augen der Schweizer diebisch, dreckig, faul und ohne Manieren seien. Ich fand nicht, dass wir so waren und dennoch sah auch ich mich einige Jahre später mit dem Begriff «Tschingg» konfrontiert.
Der ganz normale Alltagsrassismus
In der Primarschule gehörte der Begriff «Tschingg» zum Alltag. Die Schweizer Kinder nannten uns so und vor den Sommerferien fragten sie uns mit frechem Lachen, ob wir wieder in die «Tschinggei» fahren würden.
Auch wir italienischen und ausländischen Kinder hatten uns Bezeichnungen für die einheimischen Kinder zurechtgelegt. Dennoch blieb das Gefühl der Minderwertigkeit bestehen und äusserte sich in Schulnoten, in der mangelhaften Sprache und in den uns fremden Selbstverständlichkeiten, die die Schweizer Kinder mit den Lehrpersonen austauschten.
So wussten wir nichts von Wanderferien, geschweige denn von Skiferien, von denen die Lehrpersonen mit den einheimischen Kindern schwärmten. Für unsere Eltern waren Berge das Synonym für Arbeit.
Die allermeisten waren unterbezahlte und in der Misere lebende Bauern aus den Bergen Süditaliens, Anatoliens oder des Balkans gewesen, bevor sie in die Schweiz emigrierten. In die Ferien ging man zu den Grosseltern oder bestenfalls ans Meer, aber sicher nicht in die Berge.
Sport als symbolische Wiedergutmachung
Um unsere gefühlte Minderwertigkeit wieder wettzumachen, verausgabten wir uns im Fussballspiel während der Unterrichtspausen oder im Turnunterricht. Die Mannschaften waren national getrennt – Schweizer Kinder gegen ausländische Kinder.
Für viele Schweizer Kinder waren wir alles «Tschinggen», obwohl in unserem Team auch türkische, ex-jugoslawische oder spanische Kinder mitspielten. Das hing damit zusammen, dass wir ausländische Kinder alle irgendwie Italienisch miteinander sprachen.
Da die italienischen Kinder in der Mehrheit waren, übernahmen auch andere ausländische Kinder unsere Sprache. Sie wurde sozusagen zu unserer «Lingua franca». Auch sonst bot der Sport eine Möglichkeit der Wiedergutmachung. Als Italien 1982 Fussballweltmeister wurde, erfüllte uns das mit Stolz und Selbstvertrauen und gab uns das Gefühl, auf Augenhöhe mit den einheimischen Kindern zu sein.
Dasselbe geschah mit den Skierfolgen von Alberto Tomba – auch wenn niemand von uns Skifahren konnte. Unser Land konnte also doch etwas und war nicht diese primitive «Tschinggei», wie uns das abschätzig von den einheimischen Kindern nachgeworfen und von einigen wenigen Lehrpersonen suggeriert wurde.
Formen der Diskriminierung
Der alltägliche Rassismus, der Michele und Luigi im Jahre 1969 auf einer Tafel vor einem Lokal entgegentrat, oder der sich später in der alltäglichen Verlautbarung des Begriffs «Tschingg» äusserte, hatte auch noch andere Gesichter. Die selbstverständliche Diskriminierung einer Minderheit durch eine Mehrheit zeigte sich auch in der banalen Tätigkeit des Einkaufens.
Die Bitte nach dünnen Schinkenscheiben beim Metzger konnte ungeahnte fremdenfeindliche Reaktionen hervorrufen, die in der Antwort Ausdruck fanden, dass man doch zurück nach Italien gehen sollte, wenn es einem nicht passe, wie der Schinken in der Schweiz geschnitten werde.
In den 1960er-Jahren fand die Diskriminierung auch auf anderen Ebenen statt. Neben der alltäglichen und öffentlichen Beschimpfung gab es auch politische und institutionelle Diskriminierungen. So blieb für viele eingewanderte Arbeiter und Arbeiterinnen das Saisonnierstatut ein Omen für Unsicherheit, Unterbezahlung und Ausbeutung.
Die Saisonniers durften nur für die im Arbeitsvertrag angegebenen neun Monate im Land verweilen, keine Familie nachziehen und auf den guten Willen ihres Arbeitgebers hoffen – womit sie ihm auch ausgeliefert waren –, dass dieser den Vertrag im nächsten Jahr erneuere.
Angesichts der Misere, die in Italien auf diese Menschen wartete, blieb ihnen nichts anderes übrig, als auch zu den schlechtesten Arbeits- und Lebensbedingungen für eine erneute Saison in die Schweiz zu kommen.
Klandestine Kinder
Wer nach einigen Jahren eine Jahresaufenthaltsbewilligung erhielt und eine für die Behörden «angemessene» Wohnung bei einem gutmütigen Vermieter fand, durfte seine Frau nachziehen, sofern sie einen Arbeitsvertrag vorweisen konnte.
Die Kinder mussten jedoch im Herkunftsland bei den «nonni» bleiben. Viele Eltern ertrugen die zeitliche und räumliche Distanz zu ihren Kindern nicht, und nahmen sie trotzdem mit in die Schweiz, wo diese Kinder ein verstecktes Dasein fristen mussten.
Konkret hiess das, dass Mutter und Vater frühmorgens zur Arbeit gingen, während das Kind allein zuhause blieb. Es durfte die oftmals enge Wohnung nicht verlassen, vor allem aber durfte es keinen Lärm machen, weil es sonst von den Nachbarn gehört wurde und somit Gefahr lief, bei der Fremdenpolizei denunziert und ausgeschafft zu werden. Das einzige, was diesen Kindern blieb, war lesen, schlafen und Einsamkeit.
1971 berichtete die Zeitung «Tribune de Lausanne», dass in der Schweiz zwischen 10'000 und 15'000 klandestine Kinder lebten. Sehr viele dieser Kinder erlebten emotionale Traumata, weil sie – ob sie nun bei den Eltern in der Schweiz blieben oder bei den «nonni» im Herkunftsland – in einer gestörten familiären Situation aufwuchsen und von ihren Eltern entfremdet wurden.
Ein Aristokrat im Dienst der Fremdenfeindlichkeit
In dieser von Misstrauen gegenüber den italienischen Arbeitskräften aufgeheizten Stimmung nutzte James Schwarzenbach, der unbestrittene Polit-Star der damaligen Zeit und Sprössling einer der reichsten Familien der Schweiz, die Gunst der Stunde und spitzte das Unbehagen der Bevölkerung zu einer Frage über Gedeih und Verderb der Schweiz zu.
Seine öffentlichen Auftritte, Zeitungsartikel und Bücher bestätigten die gängigen Vorurteile und Ressentiments, die sich gegen die Italiener schon seit geraumer Zeit gebildet hatten.
In den Augen der Schwarzenbach-Anhänger überfüllten und verschmutzten die Fremden aus dem Süden die Strassen, Plätze und Bahnhofshallen, bezirzten ihre Töchter und Frauen, machten den fleissigen Schweizern den Arbeitsplatz streitig und verschworen sich als gefährliche Kommunisten gegen das Land, das sie angeblich so freudvoll empfangen hatte.
Für James Schwarzenbach, der vor seiner Nationalratskandidatur für die kleine rechtsextreme Partei «Nationale Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat» ein glühender Verehrer Benito Mussolinis und der italienischen Kultur war, stellten die «braunen Söhne des Südens» ein «artfremdes Gewächs» dar, das die schweizerische Kultur und Eigenart bedrohen würde.
Schwarzenbach lancierte eine Initiative, in der er verlangte, dass der Ausländeranteil auf zehn Prozent festgesetzt werde. Obwohl die Initiative am 7. Juni 1970 mit knappen 54 Prozent der wählenden Schweizer Männer verworfen wurde, stellte sie für Schwarzenbach einen moralischen Sieg dar und entblösste das xenophobe Fundament, auf dem die schweizerische Gesellschaft stand. Davon würden in den folgenden Jahrzehnten andere Parteien profitieren.
Neue Sündenböcke
Zu der Zeit, als wir ausländischen Kinder auf dem Pausenhof die Fussballtricks des italienischen Stürmerstars Paolo Rossi nachzuahmen versuchten, waren bereits hundertausende italienische Migranten in ihr Herkunftsland zurückgeschickt worden.
Die Erdölkrise von 1973 hatte auch in der Schweiz eine schwere wirtschaftliche Rezession verursacht. Die Folgen auf dem Arbeitsmarkt kriegten vor allem die ausländischen Arbeitnehmer zu spüren.
Vielen wurden einfach die Saisonnierverträge nicht mehr verlängert, so dass die Arbeitslosigkeit in der Schweiz elegant ins Ausland und vor allem nach Italien exportiert wurde. Die Ausländerfeindlichkeit nahm deshalb aber nicht ab.
In den folgenden Jahrzehnten waren es nicht mehr die Italiener, die als Gefahr für die schweizerische Gesellschaft, Wirtschaft und Identität betrachtet wurden, sondern auch andere ausländische Gruppierungen. Nach den Italienern wurden Türken, Tamilen, Kosovaren und Eritreer in die Rolle der Sündenböcke gedrängt.
«Secondos» und Paradeausländer
Als wir ausländischen Kinder erwachsen wurden und 2006 das deutsche Sommermärchen mit dem Fussballweltmeistertitel Italiens feierten, waren wir keine «Tschinggen» mehr, sondern «Secondos». Ja, wir galten sogar als Paradeausländer, die nun gerne eingebürgert werden und die als Träger einer nunmehr geschätzten italienischen Kultur gesehen werden.
Wir sind zu einer sozialen Selbstverständlichkeit geworden, genauso wie es selbstverständlich ist, dass in der Schweiz mehr Mozzarella als Emmentaler gegessen wird, und Zürich oder Bern an Sommerabenden ein mediterranes Flair versprühen. Die Schweiz hat sich «mediterranisiert».
Schwarzenbachs Erbe
Einerseits gebärdet sich die Schweizer Gesellschaft multikulturell und tolerant. Sie konsumiert exotische Speisen in den ehemals heruntergekommenen und jetzt auf Hochglanz getrimmten Arbeitervierteln und glaubt den Hauch der weiten Welt zu spüren.
Andererseits werden Schwarzenbachs Taktiken und Strategien auf dem politischen Parkett und bei Abstimmungen öffentlichkeitswirksam wiederverwendet.
Heute richtet sich der Fremdenhass gegen andere: Egal, ob sie nun Michele, Luigi, Zlatko, Adelina oder Fatima heissen. Die Rollen sind geblieben, nur die Darsteller haben gewechselt.