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Ist die Musikbranche fit für die CO2-neutrale Zukunft?
Aus Kontext vom 05.07.2020. Bild: Keystone / GIAN EHRENZELLER
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Konzerte und die Klimabilanz Pop-, Rock- und Klassikkonzerte versuchen, CO2 zu reduzieren

Während mehrere Schweizer Pop und Rock Open Airs sich seit fast 20 Jahren strategisch um Nachhaltigkeit bemühen und teils schon Klimaneutralität erreicht haben, macht der Klassikbereich vergleichsweise kleine Schritte in puncto Klimaschutz.

Keines der grossen Schweizer Orchester und Opernhäuser hat bislang eine umfassende Klimabilanz seines Betriebs erstellen lassen – bis auf das Opernhaus Zürich. Doch genau diese Bilanz ist die unverzichtbare Voraussetzung für eine effiziente Nachhaltigkeitsstrategie.

Gemäss Othmar Hug von Swiss Climate – wie auch gemäss Strategiepapieren diverser Ökologieverbünde – verläuft eine betriebliche Nachhaltigkeitsstrategie in folgenden vier Schritten: Klimabilanz, Massnahmen, Zielsetzung, Auswertung.

Die vier Schritte im Detail

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  • Bilanz:

Ein Unternehmen, sei es nun in der Kulturbranche oder in einem anderen Sektor, braucht zuerst eine umfassende Klimabilanz seines Betriebs. Stromverbrauch, Mobilitätsdaten, Abfallvolumen etc. müssen erfasst werden. Dieser ökologische Fussabdruck sollte alle Bereiche einschliessen, vom CO2-Ausstoss der eingeflogenen Stars über die Verpflegung der Angestellten bis zu den Drucksachen. Je nach Grösse des Betriebs dauert eine solche Berechnung wenige Stunden bis hin zu drei Monaten und kostet ein paar Tausend Franken.

  • Massnahmen:

Aufgrund einer differenzierten Bilanz lassen sich sogenannte «Hotspots» erkennen. Also jene Bereiche, in welchen besonders viel CO2 verbraucht wird. Im Allgemeinen sind dies die Mobilität und die Verpflegung. Bei Open Airs machen die Reisebewegungen der Musizierenden, ihrer Crews und ihres Equipments rund die Hälfte des CO2-Ausstosses aus. Im Bereich der Klassik dürfte ebenfalls die Mobilität für einen Grossteil des ökologischen Fussabdrucks verantwortlich sein. Sind solche «Hotspots» erkannt, lassen sich dort gezielt Massnahmen beschliessen und implementieren.

  • Zielsetzung:

Was ist realistisch, was weniger? Welche Massnahmen sind überhaupt machbar, wenn man die gleiche Qualität und das gleiche internationale Angebot präsentieren möchte? Aufgrund solcher Überlegungen sollte der Betrieb sich dann ein konkretes Klimaziel setzten, wie beispielsweise eine bestimmte CO2-Reduktion oder Klimaneutralität bis 2030.

  • Auswertung und Kommunikation:

Regelmässig soll der Fortschritt überprüft, dokumentiert und kommuniziert werden – intern wie auch gegenüber der Öffentlichkeit. Dies motiviert und sensibilisiert. Die Massnahmen können nach der Auswertung angepasst und verfeinert werden, damit der Betrieb in der folgenden Saison noch nachhaltiger werden und seinem Klimaziel näherkommen kann.

Genauso geht das Open Air St. Gallen seit 2004 vor. Mit knapp 100'000 Besuchenden ist es eines der grossen Schweizer Musikfestivals. Aus ökologischer Sicht erinnert man sich an die Müllhalde-ähnlichen Zustände nach den viertägigen Open Airs im Sittertobel.

Video
Aus dem Archiv: Die Hälfte des CO2 verursachen die Künstler
Aus SRF News vom 30.06.2019.
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Hohe mediale Aufmerksamkeit

Dies zog viel mediale Aufmerksamkeit auf sich und sorgte regelmässig für kollektive Empörung, so Nora Fuchs, Leiterin Kommunikation des Open Airs. Es erhöhte den Druck, die Bemühungen um Nachhaltigkeit noch deutlich zu intensivieren. Öffentlicher Druck, der in der Klassikbranche bisher fehlt, denn dort bekommt das Publikum nach einer Veranstaltung keine Abfallberge zu sehen, sondern aufgeräumte Podien.

Das traditionsreiche Open Air St. Gallen jedenfalls liess eine Klimabilanz erstellen. Und diese Analyse bestätigte, dass der eigentliche «Hotspot» im Sittertobel nicht der Müll (drei Prozent der Treibhausgas-Emissionen), sondern allem voran die Mobilität ist, bestätigt Fuchs. Die angereisten Acts auf der Bühne verursachen mehr als die Hälfte des ökologischen Fussabdrucks (55 Prozent, 964 von insgesamt 1753 Tonnen CO2 im Jahr 2019).

Klimaneutrales Openair St. Gallen 2019

Auf das klare Ziel der Klimaneutralität wurde jahrelang hingearbeitet. Zunächst ging man die kleineren, offensichtlicheren Problembereiche an: Mehrweg-Geschirr und ein Zeltdepot wurden eingeführt. Dann gings an die grösseren Klima-Brocken, ans Essen und an den Strom.

Für die Verpflegungsstände wurde ein Leitfaden zu ökologischerer Produktion (saisonal, regional, weniger Fleisch) und Belieferung entwickelt, die Diesel-Generatoren wurden vom Gelände verbannt und fürs gesamte Festival gabs nur noch Ökostrom.

Der grösste CO2-Verursacher und gleichzeitig die grösste Knacknuss aber bleibt die Mobilität der internationalen Musizierenden und des Publikums. Für die Besuchenden wurde schrittweise ein 50 Prozent-Rabatt auf die Anreise mit dem öffentlichen Verkehr eingeführt, Parkplätze wurden reduziert, und zuletzt wurden auch die Reisen der Künstler und Künstlerinnen und ihres Trosses kompensiert (Kostenpunkt 60'000 Franken).

Kompensation der CO2-Emissionen

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Kompensation: CO2-Emissionen können mittels Geldbeiträgen an Klimaschutzprojekte im In- und Ausland sozusagen ausgelagert werden. Ein effizientes, elegantes, aber nicht unumstrittenes Vorgehen, teils ist es als Klima-Ablasshandel oder Augenwischerei verschrien.

Auch für die Sound- und Lichtanlagen fand man Lösungen: Einige Bands mieteten ihr Equipment lokal oder liessen sie mit kleineren Transportern befördern. So konnte das Open Air St. Gallen 2019 erstmals klimaneutral über die Bühne gehen, eine Pionierleistung in der Schweizer Festivalszene.

Der Klassikbereich ist von Klimaneutralität weit entfernt

Grösstenteils fehlen in der Klassikbranche Klimabilanzen vollständig, klare Ziele ebenso. Man weiss also nicht, wo in diesen Betrieben die Klima-Sünder sind. Aber man muss auch festhalten: Alle engagieren sich im Kleinen sehr wohl für den Klimaschutz.

Drei Ballettänzer auf der Bühne und ein grosses Publikum im Hintergrund
Legende: Das Grand Théâtre de Genève zeigt zwar grosses Ballet, aber wenig in Sachen CO2-Kompensation. KEYSTONE / Martial Trezzini

Das Grand Théâtre de Genève schenkte seinen Mitarbeitenden eine Mehrwegflasche und installierte Wasserspender. Ausserdem, so Intendant Aviel Cahn, arbeite der Genfer Stagione-Betrieb in Kooperation mit anderen Häusern, damit Opern- oder Ballett-Produktionen nicht nach einer Aufführungsphase bereits wieder entsorgt, sondern andernorts nochmal gezeigt und verwendet werden können.

Stars auf dem Velo zur Probe?

Auch auf möglichst klimaverträgliche Materialien lege man in der Produktion Wert, und den Mitarbeitenden werde nahegelegt, mit ÖV oder Velo ins Theater zu kommen – was bei internationalen Stars allerdings eher schwierig ist. Kompensationen habe man am Grand Théâtre noch nicht ins Auge gefasst.

Ähnlich tönt es vom Konzert Theater Bern und Opernhaus Zürich. Sie haben zusätzlich grösstenteils auf energiesparende LED-Beleuchtung umgestellt, in Zürich werden ausserdem Fernwärme, Seewasserkühlung und Solarpanels eingesetzt.

Die Musikerinnen des Chicago Symphony Orchestra verlassen den Konzertsaal im KKL von Luzern.
Legende: Ganze Orchester aus aller Welt sind in Luzern zu Gast wie hier das Chicago Symphony Orchestra. Keystone / Urs Flüeler

Beim renommierten Lucerne Festival mit seiner einzigartigen aber auch CO2-intensiven «Orchesterparade», bei welcher sich Spitzenorchester aus aller Welt die Klinke in die Hand geben, ist man auch nicht weiter. Ziel sei es, Flugreisen eher zu reduzieren, statt pauschal zu kompensieren. Eine fertige Strategie, Klimabilanz oder ein Klimaziel liegen aber nicht vor. Immerhin reduziert man den Papierverbrauch: Programme fürs diesjährige Sommerfestival gibt’s nur digital.

Langsam aber sicher bewegt sich was

Auch das Tonhalle-Orchester Zürich beteuert, dass man das Thema sehr ernst nehme. Dass der Wille da ist, zeigt die Gründung einer «Arbeitsgruppe Nachhaltigkeit». Dafür wurden personelle Ressourcen freigemacht. Aber auch hier fehlt bislang eine Klimabilanz, die Fortschritte sind noch nicht riesig. Immerhin wird die Website klimaneutral betrieben und man achtet auf Effizienz und Recycling.

Klima-Berater Othmar Hug von Swiss Climate empfiehlt Klassikveranstaltern, den Vier-Punkte-Plan zu befolgen. Ein Blick nach England zeigt, dass dort kleinere Klassikhäuser diesen bereits anwenden: So hat sich die Opera North in Leeds Klimaneutralität bis 2030 als Ziel gesetzt.

Hug könnte sich hinsichtlich der kaum abwendbaren Mobilitäts-Emissionen des internationalen Staraufgebots Kompensationen vorstellen. Gewisse direkte CO2-Einsparungen wären möglich, wenn die Musizierenden in einer möglichst tiefen Klasse fliegen oder in bescheideneren Unterkünften wohnen würden.

Auch bei Drucksachen könnte einiges eingespart werden, so Hug. Es müsse nicht immer ein ausladender Hochglanzkatalog sein, Ökopapier oder eine innovative Digitalpublikation könnten vielleicht sogar hipper und fresher wirken.

Folgende Theater, Festivals und Orchester wurden angefragt

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Theater St. Gallen (3 Sparten), Opernhaus Zürich (2 Sparten), Tonhalle-Orchester Zürich, Schauspielhaus Zürich, Zürcher Theater Spektakel, Konzert Theater Bern (4 Sparten), Grand Théâtre de Genève (2 Sparten), Lucerne Festival, Verbier Festival.

Keine Informationen erhalten von:

Gstaad Menuhin Festival, Luzerner Theater (4 Sparten), Theater Basel (3 Sparten).

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 06.07.2020, 9:02 Uhr

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