Eigentlich wollten mein Bergkamerad Philipp und ich die Nordwand des Matterhorns durchsteigen. Neben der Eigernordwand, die ich bereits zuvor durchklettert habe, zählt diese Tour zu den grossen alpinen Touren der Schweiz.
Doch der Reihe nach: Mit dem Wissen um gute Bedingungen am Berg und eine stabile Hochdrucklage machen wir uns von Bern auf nach Zermatt. Von da aus geht es mit der Bergbahn hoch in Richtung Schwarzsee. Während er vom Dorf aus noch fast klein wirkt, erhält der kühne, fast 1500 Meter hohe Felszacken namens Matterhorn langsam seine wahre Grösse.
Die Tücken der Höhe
Von hier erreicht man die 700 Meter höher gelegene Hörnlihütte in weniger als eineinhalb Stunden. Doch die bei mir fehlende Akklimatisation schlägt sich bereits beim Zustieg nieder. Der Puls ist hoch und die Atmung ein wenig schnell. Es ist ein paar Wochen her, seit ich auf über 4000 Metern unterwegs war.
Keine gute Voraussetzung für eine schwere Tour am Matterhorn, an dem seit der Erstbesteigung vor rund 150 Jahren 587 Personen tödlich verunfallt sind – so viele wie an keinem anderen Berg in den Schweizer Alpen. Was ihn auch ausmacht: Am 4478 Meter hohen «Horu» klettert man über mehrere Stunden in dieser Höhe.
Abstürzende schreien nicht
Bereits von der Hörnlihütte aus ist der Tod greifbarer als bei anderen Gipfeln. Immer wieder geht mir durch den Kopf, wie sich ein Absturz anfühlen würde. Das sind Gedanken, die man sich als Bergsteiger macht. Unterwegs am Berg treten sie zum Glück in den Hintergrund.
Wer abstürzt, schreit nicht. Nur die Unfallzeugen tun es. So berichtete es bereits Pit Schubert, der deutsche Pionier in Sachen Alpinsicherheit. Entweder verliere der Abstürzende durch den Aufprall schnell das Bewusstein – oder es stelle sich im Wissen um den nahenden Tod anstatt Angst eine «ungeheure Gelassenheit» ein.
Schubert berichtete aufgrund von Aussagen einzelner Absturz-Überlebender, wie man sich «leicht beflügelt» seinem Schicksal ergebe. Für die Zeugen des Unfalls bleibt indes der schiere Schrecken und allenfalls der dumpfe Ton des aufprallenden Körpers, «als würde ein gefüllter Sack aufschlagen».
Gute Tage, schlechte Tage
Da wir eine Begehung der Nordwand beabsichtigen, entkommen wir dem grossen Rummel in der Hütte. Beim Abendessen im Essraum spürt man an vielen Tischen die Anspannung ob der Ungewissheit des nächsten Tages. Die Hörnlihütte ist fast ausgebucht. Hier unterscheidet man nicht zwischen Wochentagen und Wochenenden, sondern nach guten und schlechten Tagen, um den Berg zu besteigen.
Nach einigen Stunden Schlaf brechen Philipp und ich um halb drei Uhr auf, um rechtzeitig beim Wandeinstieg anzukommen. Auch wenn ich mich nach leichten Akklimatisationsbeschwerden vom Vortag wieder gut fühle, macht sich bei mir ein ungutes Gefühl breit.
Und tatsächlich: Bereits bei den ersten Felsen ist bei mir Schluss. Ich schlage Philipp vor umzukehren. Weshalb mir die nicht besonders schwierige Stelle nicht gelingen will, bleibt mir unbegreiflich. Vielleicht spüre ich auch, dass das Matterhorn nicht nur körperlich einen grösseren Tribut fordert als andere Berge, sondern auch mental.
Dann eben Plan B
Wir entscheiden uns, statt der Nordwand den Hörnligrat zu erklettern, also den einfachsten Weg auf den Gipfel. Neben dem Routenstudium braucht es vor allem das richtige Gespür, die Zeichen an den Felsen richtig zu deuten.
Je ausgetretener die Spur, umso eher ist man richtig. Verlässt man den einfachsten Weg, werden die Felsen lose oder schwierig zu erklettern. Das ist schneller passiert, als man denkt.
Einige Male müssen auch Philipp und ich ein paar Meter zurückklettern und einen anderen Pfad einschlagen, um wieder auf der richtigen Spur zu sein. Der sichere Weg hinauf und auch wieder hinunter führt beim Matterhorn nur über den eigenen Rhythmus.
Im Wissen darum, dass der auch zu langsam sein kann. Wer nicht in vier bis fünf Stunden auf den Gipfel steigt, dem läuft im Abstieg die Zeit davon. Zumal der Abstieg bei Matterhorn-Neulingen meist länger dauert als der Aufstieg.
Ein Berg und seine Launen
Bei optimalen Bedingungen klettert man ohne Steigeisen bis fast auf den Gipfel. Nach Niederschlägen oder bei Gewittern droht Lebensgefahr. Bereits mehrmals gab es am Matterhorn Tote durch Blitzschlag.
Je nach Verhältnissen kann der Berg bis Mitte September oder Oktober von der Hörnlihütte aus bestiegen werden. Bei Schlechtwettereinbrüchen und Niederschlägen verändert sich das Gesicht des Berges jedoch schlagartig.
Auch im Sommer bleibt dann der Schnee an den Felsen haften und macht das Klettern rutschig und heikel. Doch nicht etwa der Berg, sondern der Mensch selber ist die Hauptursache für den Tod am Matterhorn.
Die meisten Opfer sind zu unerfahren für diese anspruchsvolle Bergtour. Steinschlag ist in der Statistik der Toten trotz der immer prekäreren Permafrost-Bedingungen fast vernachlässigbar.
Fehltritte wären fatal
Stetig steigen wir derweil weiter in Richtung Solvayhütte. Bis hierhin klettern wir meist in der Ostflanke des Berges und nur selten auf dem eigentlichen Grat. Ich bin erstaunt, wie ausgetreten der Weg und wie abgeklettert die Felsen teilweise sind.
Trotz der vermeintlich leichten Kletterei: Ein Ausrutschen oder Stolpern als Seil-Erster hätte fatale Folgen. Bei korrekter Seilhandhabung wäre ein Fehler des Seil-Zweiten bei straffer Führung des Seils im besten Fall zu halten. So machen es die Bergführer.
Es ist jetzt kurz vor sieben Uhr. Die ersten wärmenden Sonnenstrahlen erreichen die über uns liegende Solvayhütte, die seit über 100 Jahren als Notbiwak dient. Die sogenannte «untere Moseleyplatte» – die nominell schwerste Kletterstelle des Hörnligrats – führt zur Hütte.
Ein unfassbarer Unfall
Fast unglaublich hört sich der Absturz an, der sich an dieser Stelle einst tatsächlich zutrug. Eine Seilschaft erreichte die Solvayhütte. Während der eine sich die Hütte von innen anschauen möchte, geschieht das Unglück: Sein Seilkamerad rutscht aus – und reisst ihn von der Türschwelle der Solvayhütte heraus in den Abgrund.
Beide sterben beim Sturz durch die Ostflanke. Einer der vielen tragischen Todesfälle, die beweisen: Am Matterhorn verunfallt man gerade auch an vermeintlich sicheren Orten.
Zur Umkehr überredet
Wir steigen nach kurzer Rast weiter. Das Gelände bleibt anspruchsvoller und steiler als noch im ersten Teil des Hörnligrats. Nach einer weiteren Stunde erreichen wir die Sicherungsstangen im Schneefeld unterhalb der Schulter.
Wir entscheiden uns, die Steigeisen anzuziehen und einen Moment innezuhalten. Dabei erlebe ich, wie ein Bergführer einen älteren Gast zum Umkehren überredet.
«Schon zwei Mal ist er mir in das Seil gestürzt», erzählt er. Zwei Mal zu viel, doch der Gast gibt – bereits leicht apathisch ob seiner grossen Anstrengungen – zu verstehen, dass er eigentlich auf den Gipfel möchte. Bergführer brauchen zuweilen auch Verhandlungsgeschick mit ihren internationalen Gästen. Geschafft: Der Gast willigt schliesslich zum Abstieg ein.
Gedränge auf dem Grat
Die Fixseile im obersten Bereich des Hörnligrats sind Nadelöhr und Kraftakt zugleich. Hier befinden sich einige Bergführer mit ihren Gästen bereits auf dem Abstieg, als wir mit knapp einem Dutzend weiterer Seilschaften den letzten Steilaufschwung vor dem Gipfel in Angriff nehmen wollen.
Seile verheddern sich, an den Sicherungsstangen herrscht grosses Gedränge. Wie es war, als in den 1990er- und Nullerjahren über 180 Personen pro Tag auf den Berg wollten, will ich mir nicht vorstellen. Das waren fast doppelt so viele wie heute. Auf rund 4200 Metern über Meer beginnen die steilsten und anstrengendsten Abschnitte des Hörnligrats.
Über fast 200 Höhenmeter ziehen wir uns an den dicken Tauen empor. Die Steigeisen kratzen auf den eingeschneiten Felsen. Ohne die verankerten Seile wäre eine Begehung des Matterhorns für die meisten Anwärter technisch zu anspruchsvoll und die Arbeit der Bergführer um ein Vielfaches gefährlicher.
Auf dem Gipfel, aber nicht am Ziel
Nach den Fixseilen folgt das «Dach» des Hörnligrats. In der ausgetretenen Spur im letzten Schneefeld vor dem Gipfel braucht es Konzentration, schon bald ist der Gipfel aber erreicht. Allzu grosse Erleichterung macht sich bei mir und Philipp aber noch nicht breit.
Denn am Matterhorn gilt in verstärktem Masse: Der Gipfel ist nur ein Zwischenschritt zur erfolgreichen Besteigung. Nicht von ungefähr passieren die meisten Unfälle im Abstieg. Die Müdigkeit, die schwierige Wegfindung in der unteren Hälfte des Hörnligrates oder Wetterwechsel haben viele Menschenleben gefordert.
Kommt hinzu: Gerade unerfahrenen Bergsteigern fällt das Abklettern einer Stelle oft schwerer als der Aufstieg. Der saugende Tiefblick in die Ostwand ruft die ständige Ausgesetztheit und die Möglichkeit eines Absturzes ins Bewusstsein. Die so entstehende Nervosität ist keine Hilfe am Berg.
Die Kunst des Abstiegs
Kommt man den Bergführern im Aufstieg zeitlich nach, zeigt sich ihre Erfahrung und ihr Können im Abstieg. Während die meisten Seilschaften mit zeitaufwendigen Abseilmanövern die schwierigsten Stellen umgehen, meistern die Bergführer diese Passagen schnell und sicher.
Auch wir verlieren auf dem Abstieg als Neulinge viel Zeit. Für das Abklettern am Mittag haben wir fast drei Stunden länger als für den Aufstieg am Morgen. Immer wieder steigen wir in eine falsche Rinne ab oder klettern am eigentlichen Weg vorbei.
Mit dem Ziel, die anspruchsvolle Nordwand zu klettern, sind wir froh, den Berg wenigstens über den vermeintlich einfacheren Hörnligrat bestiegen zu haben. Als wir am späteren Nachmittag bei der Hörnlihütte zurück sind, haben auch wir gelernt: Am Matterhorn läuft alles ein bisschen anders als an anderen Bergen.