Zuerst stutzt ein Trupp Gärtner die Hecken des Quartiers. Später fräsen Männer in orangen Overalls die Randsteine.
Frisch begradigt, getrimmt, recht gewinkelt: Es ist, als ob das Richti-Areal in Wallisellen mir beweisen will, wie ordentlich es ist.
Vorbild: Grossstadt
Dabei wirkt die junge Überbauung mit ihren glatten Neubau-Fassaden und geometrischen Arkaden ohnehin ziemlich aufgeräumt. Alles scheint hier aufeinander abgestimmt.
Das Viertel sei nach Vorbild von Metropolen wie Paris oder Mailand entworfen worden, erklärt Andri Gerber beim Spaziergang durch das Richti- und das benachbarte Zwicky-Areal.
Gerber ist Architekt und lehrt an der ZHAW zur Geschichte des Städtebaus. «Hier hat man sozusagen versucht, eine künstliche Stadt zu schaffen.»
An diesem trüben Vormittag sind Strassen, Spielplätze und Sitzbänke leer. Die meisten Menschen sitzen hinter Glasscheiben, in den Bürogebäuden entlang der gepflasterten Allee, die das «Richti» bolzengerade durchzieht.
Am deren einen Ende thront das Glattzentrum, hält die Glattalbahn, rauscht der Verkehr aus und in die Stadt Zürich. Am anderen Ende liegt der Bahnhof Wallisellen, hinter dem die Agglogemeinde ihr dörfliches Gesicht zeigt.
Auf dieser Seite der Gleise aber, im Richti-Areal, weht ein Hauch von Grossstadtluft.
Tristezza am Stadtrand?
Sandsteinfarbige Wohnblöcke in Einheitshöhe, dazwischen ein extravagantes Hochhaus mit Marmorprint: Nicht allen gefällt das. «Triste Grandezza in Wallisellen», Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen titelte der Tagesanzeiger einst und die NZZ: «Kein Ort zum Sterben», Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen. Unerträglich ordentlich – so der Grundtenor.
Zu viel Ordnung: Ein Vorwurf, der im Zusammenhang mit neuen Überbauungen im Zentrum und Umkreis der Stadt längst zum Topos geworden ist. Viele glauben in modernen Vierteln den Beweis zu erkennen, dass das kreative Biotop Stadt droht, einförmig und spiessig zu werden.
Andri Gerber teilt die Abneigung nicht. Aber er kann nachvollziehen, weshalb es einem in zu ordentlich wirkenden Siedlungen unheimelig werden kann.
Struktur versus Langeweile
«Architektur und Städtebau sind von Natur aus ordnend», holt Gerber aus. Ein gewisses Mass an Ordnung sei daher unvermeidlich – und wichtig. Ohne Ordnung könnten wir weder die Komplexität unserer Lebenswelt bewältigen noch uns darin orientieren.
Doch Ordnung habe auch eine Kehrseite: «Was zu regelmässig ist, zu ordentlich, kippt rasch ins Langweilige: Dort will niemand leben, dort passiert nichts.»
Wer die Stadt weiterbaut, schafft also zwangsläufig Struktur – muss aber gleichzeitig versuchen, diese aufzubrechen, damit sie nicht steril wirkt.
Wildwuchs nach Plan
Wie dieser Versuch aussehen kann, sieht man rund einen Kilometer vom Richti entfernt: Zwicky Süd heisst die Siedlung, die auf dem Gebiet der ehemaligen Nähspulenfabrik in Dübendorf entstanden ist. Neben alten Backsteinbauten steht dort eine Gruppe neuer Wohnblöcke.
Sie wirken auf den ersten Blick verwirrend verwinkelt und unfertig: Den Hauswänden aus Sichtbeton ist ein Gerüst aus rostroten Metallrohren und Maschendraht vorgelagert. Daran ranken Pflanzen empor, an manchen Stellen bereits bis zu den oberen Etagen.
Schräge Rampen, Treppen und Terrassen verbinden die Gebäude. «Es wirkt, als sei etwas zufällig entstanden – auch wenn hier natürlich absolut nichts zufällig ist», sagt Gerber. Denn das wirklich Zufällige, das Chaos, sei per se unplanbar.
Innenschau oder Aussenblick
Wie schafft man aber den Eindruck von Abwechslung statt Eintönigkeit? Es sei es kein schlechter Anfang, Veränderung zuzulassen, sagt Gerber. «In die Ordnung dringt irgendwann sowieso die Unordnung des Lebens.
Im Zwicky ist diese sogar Teil des Konzepts. Was öffentlicher und privater Raum ist, ist kaum abgegrenzt. Während die Wohnungen im Richti auf die Innenhöfe ausgerichtet sind, zerfranst das Zwicky-Areal an der Rändern und geht nahtlos in die umliegende Wiese über.
Die Umgebung haben Richti und Zwicky Süd gemein: Beide liegen in der Peripherie der Stadt, an einem eigentlichen Unort. «Sie verkörpern zwei unterschiedliche Arten, darauf zu reagieren, erklärt Andri Gerber.»
«Zwicky Süd will keine Schatulle sein, in der die Welt in Ordnung ist. Das resultiert in einer sehr rauen Architektur, die Durchblick lässt auf das, was man eigentlich nicht sehen will: Strassenlärm, Verkehr, Industrie.
Das Richti hingegen halte dem Unort etwas entgegen: «Eine Blockrandbebauung mit einheitlichen Fassaden – der Versuch, einen in sich geschlossenen Ort zu schaffen.»
Ärger über das Aufgeräumte
Im Café der Siedlung zurück zur grösseren Frage: Wie viel Ordnung verträgt die Stadt?
Die Debatte darum ist emotional – nicht zuletzt, weil man rasch bei der Frage landet, wie (un-)ordentlich unsere Gesellschaft sein soll. «Stadt ist gebaute Gesellschaft, mit all ihren Problemen und Ungereimtheiten», so Gerber.
Das Gegenüber von verschiedenen Zeiten und Lebensmodellen mache einen Ort spannend. Ein Stadtteil, der das eindämme, erscheine uns daher wenig einladend: «Zu viel Einheitlichkeit erscheint uns als ein Vorgaukeln von Perfektion, die es in der Gesellschaft nicht gibt.»
Bei den neuen Siedlungen kommt ein weiterer Faktor dazu: Statt einer Ansammlung von Einzelhäuschen sind es grosse Einheiten, deren Planung Sache von Obrigkeiten ist.
Als Beispiel nennt Gerber die Polemik rund um die Europaallee: «Es liegt auch an ihrem Massstab, dass sie auf so viel Ablehnung stösst. Wir sind uns solche Dimensionen nicht gewohnt.»
Ideal ist individuell
Was ist also das richtige Mass? «Der ideale Ort ist, wo Ordnung und Chaos sich die Balance halten», so Gerber. Nur: Wie das in Bezug auf die Stadt aussehen soll – dazu gebe es viele Antworten und keinen Konsens. Am Ende habe jeder ein Mass an Ordnung, mit dem er oder sie sich wohlfühle.
Für den einen ist das der geplante Wildwuchs des Zwicky Süds – für den anderen das geordnete Pflaster des Richti.