Es gibt in jeder Beziehung einen, der ordentlicher ist. Egal, ob Mitbewohner, Lebenspartnerin, Bürokollege: Bei rumliegenden Socken, dreckigen Kaffeetassen oder auch Pünktlichkeit ist das Konfliktpotenzial riesig.
Der Ordentliche scheint dabei die Moral auf seiner Seite zu haben. Es ist der Unordentliche, der nicht funktioniert. Dieser ist nachlässig, schmuddelig und seine Mutter müsste er auch mal wieder anrufen.
Der Ordentliche hingegen hält seine Sachen «in Ordnung», es läuft bei ihm in «geordneten» Bahnen – ein Ziel, das in unserer Gesellschaft ein hohes Gut ist. Wenn es zum Konflikt kommt, gewinnt meistens der, der aufgeräumter ist. Oder?
Eine Frage der Gerechtigkeit?
«Von Gewinnen würde ich nicht sprechen», sagt Nicole C. Karafyllis, Professorin für Philosophie an der TU Braunschweig. «In unserer Institutsküche werde ich manchmal wahnsinnig. Da gehöre ich zu den Ordentlichen. Aber ich gewinne nie.»
Karafyllis ist Autorin des Buches «Putzen als Passion: Ein philosophischer Universalreiniger für klare Verhältnisse». Mit Schmutz kennt sie sich aus.
Das Alltagsphänomen «ordentlich versus unordentlich» ist für die Philosophin primär eine Frage der Gerechtigkeit. Die Unordentlichen seien Trittbrettfahrer, Profiteure: «Sie schaffen eine Ungerechtigkeit, indem sie andere ihren Dreck wegmachen lassen.»
Geordnetes Heim, geordnetes Leben
Kämpft Marie Kondo in Wirklichkeit also für Gerechtigkeit, wenn sie die überfüllten Häuser der amerikanischen Mittelschicht ausmistet und unordentliche Menschen zu ordentlichen erzieht?
Um die zierliche Japanerin, die mit Büchern und einer TV-Sendung Aufräumen als neuen Seelentrend und Lösung vieler Probleme populär machte, kommt man heute beim Thema Ordnung kaum herum.
Die Idee «Räume dein Haus auf, dann wird dein Leben auch aufgeräumter» ist tatsächlich verlockend. Auch in der Schweiz gibt es immer mehr Aufräum-Coaches nach Kondos Vorbild, seit letztem Jahr haben sie sogar einen eigenen Verband: die Swiss Association of Professional Organizers.
Der Verband mag neu sein, Putzratgeber inklusive Versprechen auf ein besseres Leben sind es nicht. Der Aufräum-Guru der 1980er, die US-Amerikanerin Sandra Felton, feierte mit Ordnungsratgebern wie «The Messies Manual: The Procrastinator's Guide to Good Housekeeping» schon vor 30 Jahren ungeahnte Erfolge.
Macht uns die chaotische Welt ordentlich?
Dass sich heute auf Instagram Menschen unter Hashtags #declutter, #chaoscleared oder #organizeyourlife gegenseitig mit Bildern von pastellfarbenen, unanständig leeren Wohnzimmern überbieten, wird gern küchenpsychologisch gedeutet. Ordnung sei deshalb im Trend, weil wir in einer immer chaotischeren Welt lebten. Wenn wir die Welt um uns rum nicht ordnen könnten, wollten wir wenigstens unser Zuhause im Griff haben.
Doch Philosophieprofessorin Karafyllis winkt ab: «Das ist mir zu hoch gehängt.» Für sie ist der Grund, warum wir ordentliche Wohnungen feiern und Aufräum-Coaches dafür zahlen, unseren Kram wegzuschmeissen, weitaus banaler: Wir leben in einer Konsumgesellschaft.
«Wir haben einfach sehr viele Dinge. Das bedingt, dass wir uns ständig mit Ordnung beschäftigen müssen. Es sei denn, wir haben sehr viel Geld und können in eine immer grössere Wohnung ziehen.
Ausmisten nach dem Freude-Prinzip
Um Ordnung ins übervolle Zuhause zu bringen, arbeitet die Aufräumspezialistin Marie Kondo mit dem Freude-Impuls: Dinge, zu denen ich eine Beziehung habe, bei denen ich Freude spüre, darf ich behalten. Der Rest kann weg. Ordnung schaffen, indem man sich von Überflüssigem trennt – ist das der Schlüssel zum Glück?
«Das greift mir grundsätzlich zu kurz», sagt Philosophin Ina Schmidt. Auch sie beschäftigt sich mit Ordnung – und mit Glück. Schmidt ist nur teilweise von der Kondo-Methode überzeugt: «Wenn ich nur behalte, was mir Freude macht, heisst das auch: Konfliktbeladene Dinge, schwierige Dinge werden entsorgt.» Übertragen auf das Leben heisst das: Man setzt sich mit seinen Problemen oder negativen Seiten nicht auseinander, sondern ignoriert sie.
Das Leben im Griff. Oder doch nicht?
Ein weiteres Problem bei Marie Kondo sei das falsche Heilsversprechen. Es werden Erwartungen geweckt, die gar nicht oder nur für kurze Zeit erfüllt werden können.
Dank der neuen Ordnung soll man sich wohlfühlen, eine angenehme Atmosphäre schaffen, das Gefühl bekommen, am richtigen Ort zu sein. «Das sind sehr grosse, sehr emotionale Begriffe.» Die Antwort auf die Frage, wie diese heilbringende Ordnung zu erreichen sei, komme dann in Form von: «Wickel’ deine T-Shirts.»
Aber: Wer die Disziplin hat, seine T-Shirts zu wickeln, wird heute durchaus bewundert, während penible Ordnungsmenschen früher eher als spiessig galten. Hat ein geordnetes Leben mehr Prestige als früher?
Ina Schmidt bejaht: «Es sei eine bestimmte Form von Bodenständigkeit, Stringenz, die heute einen neuen Wert erfahre. «Die Frage ist: Wie reduziere ich meine Welt auf eine Ordnung, die ich im Griff haben kann? Darin findet sich Planbarkeit, Verbindlichkeit, Zuverlässigkeit wieder.»
Vom Stress, perfekt zu sein
Die Frage der Ordnung treibt uns als moderne Menschen stark um, weil wir in einem Zeitalter mit vielen Umbrüchen – Migration, Digitalisierung, Klimawandel – leben. Allerdings: Schon in der Antike schlugen sich die Menschen mit ähnlich komplexen Fragen herum. «Deren Welt war damals genauso unsicher – nur waren es andere Unsicherheiten», sagt Schmidt.
Die Sehnsucht nach Ordnung im Leben ist also nicht neu – neu ist allerdings die Rolle, die wir als Individuum darin spielen. Diese habe sich extrem geändert, sagt Schmidt. «Wir haben heute den Eindruck, jeder Einzelne müsse in der Lage sein, aus sich selbst heraus ein gelungenes, erfüllendes Leben zu erreichen.»
Immer schön neu ordnen
In Zeiten der Selbstoptimierung wird dieses Credo kaum hinterfragt: Dabei bedeutet es eine permanente Überforderung. Denn zuerst müsse man sich überlegen: Wann bin ich glücklich und wann sind die Dinge in Ordnung? Wie sieht für mich das ideale Leben aus?
Die Vorstellung von der «einen Ordnung», von dem einen Ideal, ist laut Schmidt ein grosser Irrtum. «Ordnung ist kein Zustand, der bleibt. Wer so denkt, wird nie Ordnung halten können, denn alle Zustände sind nur vorübergehend.» Man müsse seine Ordnung laufend überprüfen, neu ordnen, anpassen.
Eine sinnvolle Ordnung
Philosophin Schmidt plädiert für eine «organische Ordnung», wie sie es nennt. Eine Ordnung in unserem Leben, die sich unserem Alltag anpasst – und nicht umgekehrt. «Eine Ordnung, die auch für mich ‹in Ordnung› ist.»
Die Menschen um uns, die Dinge, Orte oder Erinnerungen ergeben demnach ein Gewebe, das mit uns in Beziehung steht. «In einem organischen Gebilde, in dem ich mich wohlfühle, darf es auch mal knirschen, schwierig sein, und problematische, offene Enden geben», sagt Schmidt und ergänzt: «Aber: Ich muss wissen, warum ich das aushalten will.» Anders gesagt: Es muss einen Sinn ergeben.
Ist also diese Sehnsucht nach Ordnung eigentlich eine moderne Sinnsuche? «Ich würde es anders formulieren», sagt Schmidt. «Das Sinnstiftende kann sowas wie eine moderne Ordnung tragen.» Wenn etwas Sinn macht, ist es wahrscheinlich auch in Ordnung.
Die entscheidende Frage lautet also: Welche Ordnung ist sinnvoll für mich? Und eben nicht: Macht sie mich glücklich? «Glück kann mit Ordnung einhergehen», sagt Ina Schmidt, «es ist aber nicht das Ziel.»
Wer also Sinn darin findet, seine T-Shirts zu wickeln, macht alles richtig.