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Persönlicher Abschiedsbrief Max Küng: «Liebes Auto, wir müssen Schluss machen»

Gastautor Max Küng und seine geliebten Verbrennungsmotor-Karossen haben sich auseinandergelebt. Eine Auto-Biografie.

Liebes Auto,

Du und ich: Das war einmal so etwas wie Liebe. Wir waren ein Herz und eine Seele. In den letzten Jahren jedoch hat sich unsere Beziehung doch etwas verändert. Sagen wir: Sie hat sich abgekühlt.

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Porträt Max Küng
Legende: SRF / Lukas Maeder

Max Küng (*1969) schreibt seit über 20 Jahren Texte und Kolumnen für «Das Magazin». Er publizierte diverse Bücher und Romane, zuletzt erschien die Kolumnensammlung «Die Rettung der Dinge» im Verlag Kein & Aber. Derzeit arbeitet er an seinem neuen Roman, der im Sommer 2020 erscheinen wird. Max Küng lebt in Zürich. Er fährt das «letzte schöne Auto, welches gebaut wurde: einen Volvo V70».

Noch immer hege ich Gefühle für Dich, doch oft sind sie negativer Natur. Ich reg' mich über Dich auf. Du gehst mir auf die Nerven. Manchmal schäme ich mich für Dich. Vor allem: Ich bin enttäuscht von Dir. Total enttäuscht. Weshalb? Lass mich erklären.

Es ist ein Dschungel da draussen

Vor 15 Jahren sah ich in der Sonntagsausgabe der «New York Times» ein Zeitungsinserat. Es zeigte einen Geländewagen des Typs Hummer, der in einer Fotomontage so über andere Autos montiert war, dass es aussah, als fahre der Geländewagen über die anderen, «normalen» Autos hinweg. «It’s a jungle out there. Get a Hummer.» So lautete der Slogan dazu.

Inserat für den Geländewagen Hummer, der über andere Autos fährt
Legende: Das vergilbte Originalinserat aus der New York Times. zvg

Damals dachte ich, was man gemeinhin so denkt: «Das Auto als Form der Machtausübung … oje. Die Amis halt … haben einen Hau weg.» Ich fand diese Annonce so bizarr, dass ich sie aus der Zeitung rausriss – ich hab’ sie übrigens immer noch.

Dekadenz wird normal

Doch blicke ich heute auf die Strassen der Stadt, in der ich lebe, dann stelle ich fest: Diese Anzeige war kein Zeichen US-amerikanischer Plemm-Plemm-Dekadenz, sondern eine Vorwegnahme eines Zustandes, der nun auch bei uns Einzug gehalten hat – und zu einer Normalität geworden ist.

Roter Hummer in einer amerikanischen Stadt
Legende: Früher eine absurde Vorstellung, heute das Normalbild: Monster in der Stadt. imago images / Manfred Segerer

Früher war ein Geländewagen mit den Dimensionen eines Hummers ein exotisches Monstrum, eine exaltierte Extravaganz. Heute sind solche Gefährte die Regel. Sie bestimmen unser Strassenbild. Das stimmt mich mehr als nachdenklich.

Karossen-Kompetenz rettet meine Kindheit

Liebes Auto, Du warst einmal – das kann ich behaupten – das Wichtigste in meinem Leben. Ich wuchs auf dem Land auf und war ein unsportlicher Junge, dick, bekam die Haare von meinen grossen Schwestern geschnitten, die lieber noch eine kleine Schwester denn einen Bruder gehabt hätten. Ich trug eine dickwandige Brille, lebte auf einem Bauernhof am Rande des Dorfes, im Wald schon fast – und durfte die dumpfe Dummheit und die dafür umso ausgeprägtere Brutalität der Dorfjugend am eigenen Leib erfahren.

Ich war der klassische Aussenseiter. Als solcher fand ich Trost in der Lektüre von Autozeitschriften. Durch sie lernte ich alles Wissenswerte über Dich. Ich kannte das Leergewicht des De Tomaso Pantera (1382 Kilo), ich wusste die Beschleunigungswerte eines Lotus Esprit S2 (7.1 Sekunden von null auf hundert), mir war die Höchstgeschwindigkeit eines Lamborghini Countachs LP400 vertraut (309 km/h).

Diese Karossen-Kompetenz brachte mir einen gewissen Respekt ein. Deshalb sage ich gerne: Du hast meine Kindheit gerettet – deshalb sei ich Dir auch heute noch zu Dankbarkeit verpflichtet. Doch es fällt mir immer schwerer, diese Dankbarkeit aufzubringen.

Meine ersten Autos

Du und ich: Etwas ging da schief. Du warst früher mein Fluchtvehikel aus der Enge einer Kindheit auf dem Lande, so etwas wie ein Versprechen für eine Zukunft, die so glänzend sein würde wie eine frisch lackierte Motorhaube. Was ist davon geblieben?

Ich erinnere mich gerne. Mein erster Wagen war ein Lancia Delta. Eine eckige Kiste. Super Karre. Aber er ging ebenso kaputt wie die Beziehung zu der Frau, mit der ich ihn geteilt hatte, so wie später auch die Marke Lancia kaputtgehen sollte: ein Trauerspiel.

Der erste von mir allein gekaufte Wagen war dann ein Audi Quattro aus den 1980er-Jahren. Ebenfalls eine eckige Kiste – dank dem damals neumodischen Katalysator jedoch eine etwas kastrierte Version des Rallye-Autos.

Dunkelblauer Audi Quattro
Legende: Mein alter Quattro. Leider ging alles kaputt, was kaputt gehen konnte - und ich war jung und hatte kein Geld. Aber der Quattro lebt noch. In Deutschland. Es geht ihm gut dort. zVg

Trotzdem: super Karre! Ich kaufte ihn als Occasion, für 10‘000 Franken. Eines der Traumautos meiner Kindheit, das immer ein guter Stecher in den Auto-Quartetten gewesen war.

Als hätte ich einen Dinosaurier geritten

Dann aber kränkelte der Quattro. Ich hatte nicht das Geld für die anstehenden Reparaturen, welche veranschlagt den Kaufpreis übertrafen. Ein Sammler in Koblenz übernahm den Wagen und liess ihn aufwendig restaurieren. Vor einer Weile ging ich ihn übrigens besuchen. Ein paar Erinnerungen kamen dabei hoch. Mehr aber ist nicht passiert. Ich vergoss keine Tränen, verliess Koblenz abends ohne Leiden.

Doch der Marke blieb ich damals treu, legte mir einen S6 zu, eine – wie ich fand – tolle Mischung aus Unvernunft (V8-Motor, 290 PS) und Pragmatismus (Kombi). Auch der ging kaputt.

Es folgte ein anderer Audi S6, diesmal einer mit 340 PS. Rückblickend war es, als hätte ich einen Dinosaurier geritten: Der Wagen genehmigte sich 16 Liter pro 100 Kilometer – bei moderater Fahrweise. Damals riss ich noch Witze darüber («Natürlich verschmutzt mein Auto die Umwelt, die Umwelt verschmutzt ja auch mein Auto.»).

Ein dunkler Klumpen Eisen

Als Audi aber den neuen S6 mit 420 PS auflegte, da beschloss ich, dass mit dem Irrsinn Schluss sein würde. Die Zeiten hatten sich geändert. Ich hatte mich geändert. Du und ich aber, wir entwickelten uns in verschiedene Richtungen.

Also gab es nur eine Lösung: Ich zog den Audi aus dem Verkehr – und zwar ganz und gar. Ich liess ihn verschrotten. Denn ich wollte nicht, dass er andernorts weiter die Luft verpestete. Ihm endgültig den Garaus zu machen, war der einzig gangbare Weg. Krass krachten die Scheiben, laut ächzte das Blech, als er von der tonnenschweren Presse in die Mangel genommen wurde. Am Ende blieb ein dunkler Klumpen Eisen.

Hauptsache aggressiv

Meine Enttäuschung deinetwegen ist vor allem auch ästhetischer Natur. Was heute auf den Strassen unterwegs ist, unterscheidet sich kaum voneinander. Alle Wagen sehen gleich aus.

Die Designer konzentrieren sich bloss noch darauf, im Rückspiegel möglichst aggressiv daherkommende Frontpartien zu gestalten. Die Kühlergrills sind Raubtierschnauzen, die Kotflügel ausgefahrene Ellenbogen, die Scheinwerfer böse Augen.

Und diese grausame Verfettung! Auch Kleinwagen sehen heute so aus, als kämen sie nach dem Pumpen und mit Proteinshakes vollgesoffen geradewegs aus dem Fitnessstudio.

Es dünkt mich: Früher waren charismatische Designer am Werk, Auto-Autoren quasi – heute wird bloss der schlechte Geschmack einer kaufkräftigen Kundschaft umgesetzt.

Der neuste Luxus-SUV der Marke Audi etwa, das Modell RS Q8, ein 2.3 Tonnen schweres Monstrum mit 600 PS, ist von solcher Abartigkeit, dass man nicht umhin kommt zu denken, dass ein solcher fahrbarer Gewaltexzess nur von einer Industrie hervorgebracht werden kann, die blind ihrem Ende entgegen rast. Eine Industrie, welche förmlich um den Fangschuss bettelt.

Die mächtige Kühler
Legende: Der Machtkampf auf den Strassen geht in eine neue Dimension: fahrbarer Exzess, der neuste Luxus-SUV von Audi. imago images / ZUMA Press

Wer ein solches Auto kauft, der schreit damit: «Ich scheisse auf die Welt. Ich scheisse auf die Mitmenschen. Seht her, auf welcher Seite der Kluft ich stehe, welche sich in der Gesellschaft auftut, sie in arm und reich teilt – und falls ich doch in diesen Graben fallen sollte, so fahr ich mit dem SUV einfach wieder empor.»

In der Fachpresse las ich in einem Bericht, dass es bloss einen Grund gab, weshalb der RS Q8 nicht noch breiter als 2190 Millimeter gebaut wurde: Er hätte in der Fabrik nicht mehr in die Lackierkabine gepasst.

Du leidest an toxischer Männlichkeit

Vielleicht bist Du ein Opfer toxischer Männlichkeit. Denn in der Automobilindustrie sind Frauen so rar wie Männer an einer Tupperware-Party in den 50ern es waren. Entscheidungen werden von Männern gefällt. Männer sind es, die Dich denken, Männer entwerfen, Männer bauen.

Es ist bloss eine Vermutung, aber hey: Gewisse Definitionspunkte der sogenannten «toxischen Männlichkeit» treffen präzis auch auf Dich zu. «Gefühle sollten weitestgehend versteckt oder unterdrückt werden, es sei denn, es handelt sich um Wut oder Aggression.» Könnte auch in einem psychiatrischen Gutachten stehen, das man über einen BMW X6 anfertigen würde, oder?

Max Küng im Auto
Legende: Beim Abgesang aufs Auto wird Max Küng ein bisschen wehmütig. SRF / Lukas Maeder

Auch Äusserlichkeiten betreffend sind die Definitionspunkte von frappanter Passgenauigkeit mit geringem Spaltmass: «Männer, deren Körper nicht dem maskulinen Idealbild entsprechen (breitschultrig, muskulös, hochgewachsen, schmerzresistent), werden nicht ernst genommen oder verlacht.»

Makellose Macht?

So geht es Dir doch auch, wenn Du auf den Strassen unterwegs bist, oder? Brutal musst du Dich geben. Brachial. Potent. Jeder Kolbenhub eine Machtdemonstration.

BMW wirbt etwa für das neue monströse SUV-Modell unverfroren direkt: «Einzigartigkeit in ihrer dominantesten Form.» – «Makellose Macht.» – «Geschaffen, um anzuführen.» – «Eine neue Form der Machtausübung.» Alles Sprüche aus dem Prospekt: Als gälte es, nicht ein Auto zu verkaufen, sondern eine neuartige Superwaffe.

«Makellose Macht!» Da wird mir echt übel. Was sagte der BMW-Designer Adrian von Hooydonk auf die Frage, weshalb die Autos der Marke so aggressiv daherkommen? «Es soll so aussehen, als ob es die Strasse vor einem auffressen möchte.» Guten Appetit!

Die Farben sind verblasst

Nicht nur in der Form enttäuschst Du mich, auch in Deiner Farbigkeit. Erinnerst Du Dich an diese Fotos, die in den 1970ern beliebt waren, diese Flugaufnahmen von Einfamilienhäusern, die dann in diesen Einfamilienhäusern hingen?

Nun, schau Dir mal solche Bilder an, und Du wirst sehen, wie bunt die Welt damals gewesen ist. Die Autos vor den Häusern waren grün, sie waren orange, sie waren hellblau.

Heute bist Du schwarz, weiss oder grau. Die Farben sind verschwunden. Wohin? Und weshalb? Weil man beim Kauf bereits darüber nachdenkt, dass eine bunte Farbe eventuell den Wiederverkaufswert mindern könnte? Konformität aus Angst und Unsicherheit? Was sagt das über unsere Gesellschaft?

Adieu, Auto

Liebes Auto, Du glänzt zwar im Scheinwerferlicht der Showrooms und in den Hochglanzprospekten, aber Du hast Deine wahre Strahlkraft längst verloren. Ist Dir auch schon aufgefallen, dass Kinder heute kaum mehr mit Matchbox-Autos spielen?

Autos interessieren nicht mehr. Sie werden von den Kindern und Jugendlichen heutzutage mehr als Verursacher von Problemen und Zerstörer wahrgenommen denn als Träume, die man sich dereinst erfüllen möchte.

Natürlich bist Du bequem – bequemer denn je sogar. Man lässt sich gerne mit Dir rumkutschieren. Aber das Herz der jungen Generation wird davon nicht mehr tangiert.

Liebes Auto: Ich dachte immer, du wärst Zukunft. Aber Du bist nur noch Vergangenheit. Nostalgie. Schwindend. Bald vergessen, ganz und gar.

Ein bisschen wehmütig, mit feuchten Augen gar.

Max

PS: Und wenn Du nun sagst, liebes Auto, dass es Dich doch nun auch in grün gäbe, als Elektrofahrzeug, die Umwelt liebend, dann sag ich Dir: Hör mir auf! Das ist doch bloss alte Luft in neuen Pneus. Elon Musk stellt den Tesla Cybertruck vor. Und um was geht es? Das Ding ist fast sechs Meter lang und beschleunigt schneller als ein Porsche. Der Wahnsinn geht weiter wie zuvor.

Vom Kultobjekt zum Klimakiller: Ausstellung zum Auto in London

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Rotes Auto steht nur auf Hinterrädern
Legende: Victoria & Albert Museum / Nathanael Turner

Von Statussymbol und Ikone industrieller Kultur des 20. Jahrhunderts zum Ressourcenfresser und Klimakiller: Eine Ausstellung zeigt 130 Jahre Auto und wie es die Welt verändert hat.

Es ist das wichtigste Objekt des 20. Jahrhunderts, sagen die Kuratoren des Victoria & Albert Museum in London. Kein anderes hat die Welt mehr beeinflusst. Gleichzeitig ist seine Zeit als Identitätsbildner, als Statussymbol und Ikone industrieller Kultur des 20. Jahrhunderts abgelaufen.

Heute gilt das benzingetriebene Kraftfahrzeug als Klimasünder und Ressourcenschleuder. An diesem Wendepunkt widmet das britische Designmuseum dem Auto eine Retrospektive.

Autos mit Kultcharakter

Die Ausstellung zeigt 15 ausgewählte Autos mit Kultcharakter. Darunter das erste motorbetriebene Auto von Carl Benz, das erste in Massenproduktion entstandene Serienauto von Henry Ford, ein VW-Käfer von 1945, das iranische Auto der Nation der 1960er-Jahre, ein Lowrider und selbstverständlich auch ein elektrisches, autonomes und fliegendes Auto der Zukunft. Die Macher spannen den ganzen Bogen über 130 Jahre Auto-Geschichte.

Massenproduktion

Ergänzt werden die dicht an dicht parkierten Vehikel mit Objekten, Illustrationen und Filmausschnitten. Sie sollen aufzeigen, welchen Einfluss, das Auto auf alle Lebensbereiche des Menschen hatte: auf unser Verhältnis zu Geschwindigkeit, unsere Städte und Landschaften, auf anderes Design. Und auf die Fliessband-Produktion, die seit Henry Fords erstem Serienauto geboren war.

Ölfirma lässt Gletscher schmelzen

Zu entdecken gibt es in der Ausstellung einiges, auch Überraschendes. Da hängt zum Beispiel ein Werbeplakat einer US-Ölfirma aus den 1960er-Jahren, die mit dem aus heutiger Sicht zynisch anmutenden Slogan für sich warb, täglich genug Energie zu produzieren, um sieben Millionen Tonnen Gletscher schmelzen zu lassen. Diese und ähnliche Trouvaillen entschädigen für den nicht allzu spektakulären Auftritt der Autos selber.

Sibilla Semadeni

Die Ausstellung «CARS. Accelerating the Modern World» im Victoria & Albert Museum in London läuft bis am 19. April 2020.

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