Es stammelt, lallt, und gurrt. Scheinbar sinnlose Silben reihen sich aneinander, mal laut, mal leise, intensiv oder beiläufig. Der Basler Marcello Corciulo betet täglich «in Zungen». Am liebsten während langweiliger Hausarbeit.
Er lasse es einfach fliessen, und dann kämen die Silben und Töne hervor, erzählt er. Es tue ihm gut, es baue ihn auf.
Wer oder was redet da?
Die Zungenrede, auch Sprachengebet oder Glossolalie genannt, ist einer der geheimnisvollen Aspekte, von denen das Christentum einige zu bieten hat. Sie wird vorwiegend in pfingstlichen Gemeinden rund um den Globus praktiziert.
Nach dem biblischen Pfingstereignis fuhr mit einem Brausen, einem heftigen Sturm, der Geist über die versammelten Jesus-Nachfolger. Es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, und sie begannen, in fremden Sprachen zu reden.
Apostel Paulus beschreibt im ersten Korintherbrief die Zungenrede als eine von neun Geistesgaben: «Denn wer in Zungen redet, redet nicht zu Menschen, sondern zu Gott; keiner versteht ihn: Im Geist redet er geheimnisvolle Dinge.»
«Gebet des Geistes»
Wie fühlt sich das geheimnisvolle Zwiegespräch mit Gott an? Marcello Corciulo sagt, die Laute tauchten in ihm auf «wie Blasen im Mineralwasser». Sie kämen von innen, er müsse sich einfach dazu entscheiden, seine Zunge zu bewegen.
Er unterscheidet zwischen Gebeten mit «Verstand» und jenen «des Geistes». Beide Gebetsformen ergänzen sich, sagt er. Corciulo wirbt in Seminaren und Online-Videos für das Sprachengebet, will Gläubige dazu ermuntern, die «Gabe zu empfangen».
Corciulo erzählt, dass er kaum Gemeinden kennt, die während ihrer Gottesdienste in Zungen beten. Schweizer Gläubige seien da eher zurückhaltend und pflegten das Sprachengebet vor allem im kleinen Kreis oder allein.
Sich in Trance beten
Der Theologe Daniel Frei pflegt berufliche Kontakte mit vielen pfingstlichen Migrationsgemeinschaften, also Gemeinden von Gläubigen aus bestimmten Ländern oder (Sprach-)Regionen. Manche von ihnen, zum Beispiel einige afrikanische Gemeinden, bauen die Zungenrede als Element in ihre Gottesdienste ein.
Während der Lobpreis- und Gebetsphasen kann es auch mal laut und emotional werden. Einige Gläubige beten und singen sich in Trance.
Gegen die herrschende Ordnung
Frei hat zur pfingstlichen Theologie geforscht. Er versteht die Zungenrede auch als Instrument der Selbstermächtigung: als Sprache, die den Gläubigen immer zur Verfügung steht, gerade auch wenn sie Unterdrückung oder Verfolgung erleben. Zungenrede sei eine Sprache, die sich jeder herrschenden Ordnung verweigere.
Der Umgang mit der Glossolalie fällt in Pfingstgemeinden rund um den Globus sehr unterschiedlich aus. Kritisch wird es, wenn die «Geistgabe» des Zungengebets als Voraussetzung für den richtigen Glauben angesehen wird.
«Zungenrede darf nicht zu Manipulation und Machtmissbrauch führen», sagt Frei. Auch Corciulo lehnt jeglichen Druck oder Zwang klar ab.
Es fällt auf, wie widersprüchlich das Reden in Zungen bewertet wird. Der Religionswissenschaftler Volkhard Krech beschreibt die Glossolalie als «ambivalente religiöse Kommunikation».
Manche religiösen Institutionen fürchten sich vor einem Kontrollverlust: Wie können sie beurteilen, ob es sich um eine göttlich inspirierte Sprache, um schlichte Schauspielerei oder gar um etwas Dämonisches handelt?
In der römisch-katholischen Kirchentradition etwa kann die Zungenrede als gefährlich oder gar dämonisch eingestuft werden. Buchstäblich verteufelt wird sie im «Rituale Romanum»: Das Liturgiebuch wertet das Reden in Zungen als eines der Zeichen teuflischer Besessenheit, «wenn einer ausführlich eine ihm unbekannte Sprache spricht oder einen versteht, der in einer solchen redet […]».
Poesie und Dada
Auf Aussenstehende, die mit der Vorstellung einer solchen «Geistesgabe» wenig anzufangen wissen, kann die Zungenrede bedrohlich wirken. Trancezustände, starke Gefühle und heftiges Sprachengewirr beängstigen und irritieren.
Doch auch für rationale, «aufgeklärte» Menschen ist die Zungenrede ein faszinierendes Phänomen. Sie fordert den Verstand heraus. Und sie birgt ein kreatives Potential jenseits der religiösen Bedeutung.
Als «ästhetische Glossolalie», wie Krech es nennt, fand die geheimnisvolle, unverständliche Lautsprache längst ihren Weg in die Poesie, etwa bei Christian Morgensterns «Der grosse Lalula», oder in der dadaistischen Lautpoesie eines Hans Arp oder Hugo Ball.
Der Insider Marcello Corciulo formuliert es so: «Das Zungengebet hat mir den Zugang zum Bereich des Übernatürlichen verschafft».