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«Am liebsten hätte ich dieses Bild von der Wand gerissen. Das war mein Fleisch und Blut. Er war ein Mörder und Verbrecher.» So erzählt Schwester Silvia Pauli, wie sie 2009 einer Fotografie ihres Grossvaters begegnete: Johannes Pauli, stellvertretender Kommandant des KZ von Bisingen im Rang eines SS-Hauptscharführers.
Idylle und Grauen sind sich sehr nahe in Bisingen. Über der baden-württembergischen Gemeinde thront das märchenhafte Stammschloss preussischer Könige.
An diesem Ort befand sich im Zweiten Weltkrieg aber auch ein Konzentrationslager für mehr als 4100 Häftlinge. Die meisten stammten aus Osteuropa. Juden, Sinti, Roma, Polen und Russen mussten hier für die Nazis Ölschiefer abbauen.
Ein grössenwahnsinniges Unterfangen
Die deutsche Kriegswirtschaft benötigte dringend Treibstoff. Doch das Projekt mit dem Namen «Wüste» war ein Misserfolg. Öl floss kaum und nur in schlechter Qualität. Fast 1200 Häftlinge liessen für das grössenwahnsinnige Unterfangen ihr Leben.
Mitverantwortlich für ihren Tod war der 1900 geborene Johannes Pauli. Der vierfache Vater war Bürger der Gemeinde Wahlern im Kanton Bern. Von Oktober 1944 bis Februar 1945 war er Lagerführer von Bisingen.
Schweres Erbe, langsame Heilung
Bisingens Geschichte ist auch Teil von Schwester Silvias Biografie. Als Enkelin trägt sie ein schweres Erbe. «Der Grossvater hat mir die Jugend geraubt», sagt Silvia Pauli. Die Diakonissin aus Riehen suchte therapeutische Hilfe, um das Trauma zu verarbeiten. Der Heilungsprozess werde wohl ihr ganzes Leben andauern.
Es war an einem strahlenden Septembersonntag 2009, als sie sich entschloss, allein das Heimatmuseum von Bisingen zu besuchen. Es ist zugleich Gedenkstätte und dokumentiert die Geschichte des KZ.
«Es zog mir den Boden unter den Füssen weg»
Obwohl sie sich mit eigenen Recherchen vorbereitet hatte, war Silvia Pauli wie vom Donner gerührt, als sie hier zum ersten Mal vor der Schwarz-Weiss-Fotografie ihres Grossvaters stand.
Da war jener Mittvierziger in Anzug und Krawatte, der nach dem Krieg zugab, 1944 einen Häftling eigenhändig erschossen und in zwei weiteren Fällen der SS einen Schiessbefehl erteilt zu haben.
Die Opfer hatten angeblich beim Aufräumen von Trümmern Lebensmittel gestohlen. «Es zog mir den Boden unter den Füssen weg. Ich bekam eine Wut und war einem Zusammenbruch nahe.»
Grossvaters Verbrechen waren ein grosses Tabu
Weshalb ihr Grossvater Menschen derart grausam behandelt hatte, kann die evangelische Ordensfrau nicht nachvollziehen. Hass empfinde sie nicht auf ihn, obwohl er auch sie indirekt zum Opfer gemacht habe. Seine Verbrechen waren nämlich lange tabu in der Familie.
Insbesondere ihr eigener Vater weigerte sich, darüber zu sprechen. «Er wollte nichts mehr mit dieser Geschichte zu tun haben», erzählt Silvia Pauli. «Er hat versucht, seinen Vater zu verteidigen. Ein Sohn bleibt eben immer ein Sohn. Ich habe gelernt, dies zu akzeptieren und hatte es nicht darauf angelegt, mit ihm zu streiten.»
Leichtes Opfer von Missbrauch
Sie habe mit ihrem Vater schwierige Diskussionen geführt, die ihre Beziehung stark belastet hätten, erzählt die 53-Jährige. Dass die Familie die Schande hartnäckig verdrängte, habe den Alltag einschneidend geprägt.
«Ich lernte zu schweigen und das brave Mädchen zu sein. Deshalb wurde ich später ein leichtes Opfer von Übergriffen. Das ging bis zum sexuellen Missbrauch.» Dies habe sie unfähig gemacht, ein gesundes Verhältnis zum männlichen Geschlecht zu entwickeln. Mit 22 Jahren entschloss sich die Enkelin, als Diakonissin ehelos zu leben.
Lange habe sie sich schuldig gefühlt für die Verbrechen von Johannes Pauli, im Wissen darum, gar nichts dafür zu können. Geblieben sei bis heute eine Scham für das, was er anderen angetan habe. Dafür könne sie ihm nicht vergeben, so Schwester Silvia. «Dieses Urteil steht in Gottes Hand.»
Mahnen und Erinnern
Juristisch abgeurteilt wurde Johannes Pauli in der Schweiz, wohin er sich nach dem Krieg abgesetzt hatte. Das Basler Strafgericht verurteilte ihn 1953 zu zwölf Jahren Zuchthaus. Er kam nach acht Jahren frei und starb 1969 in Hamburg.
In Bisingen finden sich heute mitten in einem Wald Reste der Fabrikanlagen und eines Öltanks. Die Überreste sind Zeugen des Grauens im Zweiten Weltkrieg. Schwester Silvia Pauli spricht heute öffentlich über ihr Trauma und die Verbrechen ihres Vorfahren. Sie versteht sich als Mahnerin, «damit wir die Zeichen der Zeit verstehen und sich die Geschichte nie mehr wiederholen kann».