Der dicke, schwarze Stift kreischt leise über die Wand, als Jad El Khoury die Linien zieht. Er macht einen Schritt zurück und begutachtet das Werk. Es dauert einen Moment, bis sich das Auge zurechtfindet. Das detailreiche Bild erstreckt sich über die ganze Wand.
Es ist nicht irgendeine Wand, sondern diejenige des Wartesaals der Schweizer Botschaft in Beirut. Der 31-jährige Strassenkünstler El Khoury füllt sie mit seinen Figuren.
Er zeigt auf die abstrakte Landschaft: «Die roten Strukturen sind sehr symmetrisch. Sie stehen für die Effizienz und die Organisiertheit der Schweiz. Die Figuren dort zeigen das Chaos des Lebens im Libanon.»
Es wuselt auf der Wand. Dazwischen finden sich ruhigere Inseln mit Kühen, Bergen, Schafen. Die Schweiz und der Libanon in einem Bild. «Die Komposition vereint sich zu einem Gleichgewicht», sagt El Khoury. «Ich glaube, wir brauchen beides: das Chaos und die Beschaulichkeit.»
Stadt der Gegensätze
Beirut ist die Hauptstadt des Libanon und hat etwas über zwei Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, rund ein Drittel des kleinen Mittelmeerstaates lebt hier.
Als chaotisch lässt sich vieles in dieser Stadt bezeichnen: der Verkehr, die politischen Gegebenheiten, die brüchige Infrastruktur. Eine Stadt der Gegensätze: konservative Viertel und Partymeilen. Eine Stadt, die selten schläft. Für Besucherinnen und Besucher ist es auch eine Stadt, in der die Spuren des Bürgerkriegs von 1975 bis 1990 auch heute noch auffallen.
Kaum eine Verarbeitung des Krieges
«Das Drama des Libanon ist ja, dass dieser Bürgerkrieg in vielen Köpfen gar nicht richtig fertig ist», sagt Monika Schmutz Kirgöz, die Schweizer Botschafterin in Beirut. Verarbeitung habe bisher nicht wirklich stattgefunden.
Ich bin in einer Gesellschaft aufgewachsen, die immer noch vom Bürgerkrieg paralysiert ist.
Doch gerade die jungen Menschen haben keine Lust mehr auf die Spaltung zwischen Konfessionen und Volksgruppen. So auch Künstler El Khoury: «Das Bild spiegelt meine Erfahrungen wieder. Ich wurde als Teil der Nachkriegsgeneration geboren, bin aufgewachsen in einer Gesellschaft, die immer noch vom Bürgerkrieg paralysiert ist.»
Mit Farbe gegen «Traces de Guerre»
Nicht nur die Jugend geht seit Oktober 2019 auf die Strasse: Menschen aus allen Generationen protestieren gegen die grossen wirtschaftlichen Ungleichheiten, gegen die Korruption, für ein säkulares System. Dort fände jetzt auch die Vergangenheitsbewältigung statt, sagt Botschafterin Schmutz Kirgöz.
Die Strasse ist normalerweise auch El Khourys Revier – zumindest sein künstlerisches. Seine Street Art ist Intervention des öffentlichen Raumes. Die Verwandlung eines bürgerkriegsversehrten Turmes in ein Denkmal der Versöhnung machte ihn vor zwei Jahren international bekannt. Eine Ausstellung am Comic-Festival Fumetto und die Gestaltung einer Swatch-Uhr haben ihn seither auch in die Schweiz gebracht.
Keine zufällige Wahl
Doch seine Arbeit habe sie vor allem aufgrund der Auseinandersetzung mit den «Traces de Guerre» beeindruckt, sagt Botschafterin Schmutz Kirgöz. Als es darum ging, die Botschaft zu verschönern, sei die Entscheidung für El Khoury deshalb nicht zufällig gewesen.
Wartesäle in Botschaften sind oft ungemütliche Orte. Die Menschen werden hier etwas zur Ablenkung haben.
Der Künstler besetze die Themen, in denen die offizielle Schweiz auch tätig ist, sagt Schmutz Kirgöz. «Wir haben unter anderem eine Abteilung für menschliche Sicherheit, da geht es auch um Vergangenheitsbewältigung.»
Persönlicher Bezug
Künstler El Khoury verbindet mit den diplomatischen Räumlichkeiten persönliche Erfahrungen: «Immer, wenn ich ein Visum für einen Europabesuch gebraucht habe, fühlte ich mich wie an einer Abschlussprüfung. Man macht sich Sorgen, dass man ein wichtiges Dokument vergessen haben könnte», erinnert er sich.
«Wartesäle in Botschaften sind oft ungemütliche Orte.» Er sei deswegen froh, hier Farbe reinzubringen. «Nun werden die Menschen hier etwas zur Ablenkung haben, während sie warten», sagt er.
Das Wandgemälde nimmt langsam Gestalt an. Rund zwei Wochen hat er nach den Schalteröffnungszeiten gearbeitet. Unterstützung erhielt er jeweils auch aus dem Freundeskreis.
Chaotisch versus ruhig
Auf die Frage, ob der chaotische Libanon oder die ruhige Schweiz ihn zur Kunst mehr inspirierten, antwortet El Khoury etwas irritiert: «Es sind zwei verschiedene Arten der Inspiration.» Die Schweiz biete Stille und Entspannung.
«Im Libanon fühle ich mehr Wut, Sorge – und dass ich Dinge zerschlagen will», witzelt er. Es seien die beiden Gefühlsextreme, die ihn zu seiner Kunst antrieben. «Ich weiss, dass ich als Künstler beides brauche.»
Dann setzt er wieder den Stift an, füllt die Striche mit Leben und Farbe. Eine Kuh erhält gerade schwarze Tupfer. Ganz weg von den Schweizer Klischees kommt er hier nicht. «Manchmal bringen mir die Botschaftsangestellten beim Malen sogar Schokolade vorbei», schmunzelt er.