Menschen lügen ständig. Nicht nur aus niederen Motiven, wie die Lügenforschung weiss: «Wenn wir dem Partner oder der Partnerin sagen: ‹Du siehst gut aus heute›, obwohl wir das gar nicht finden, ist das zwar gelogen, aber nett gemeint.»
Philipp Gerlach, Psychologie-Professor an der Hochschule Fresenius in Hamburg, hat Lügen studiert und hunderte Forschungsberichte, Untersuchungen und Experimente analysiert. Er weiss, wer wann warum lügt.
Schwarze und weisse Lügen
«Lügen ist, wenn wir wissentlich die Unwahrheit sagen und davon ausgehen, der andere glaubt uns. Deshalb ist Lügen etwas, das sich stark zwischen Menschen abspielt. Es braucht einen Sender und einen Empfänger.»
Wir lügen aus Verlogenheit, Feigheit oder um uns Vorteile zu verschaffen. Aber wir lügen auch aus Freundlichkeit oder um uns gut zu stellen mit anderen. «Die Wissenschaft nennt das schwarze oder weisse Lügen.» Dazwischen gebe es alle möglichen Schattierungen, so der Lügenforscher.
Mit Lügen Schrott andrehen
Manchmal ist der Fall aber klar: «Wenn der Garagist ein Occasion-Auto, das diverse Crashs überstanden hat, als unfallfrei anpreist, ist das eine schwarze Lüge. Ebenso, wenn die Finanzberaterin Schrott-Aktien als sichere Anlagen verkauft.»
Das Kompliment an die Partnerin mit der verhauenen Frisur sei dagegen eine weisse Lüge, so Philipp Gerlach. «Das Gleiche gilt für den Fussballkollegen, der mir versichert, dass alles halb so wild ist – obwohl ich das entscheidende Tor versemmelt habe.»
Lügen und Schönreden glätten unsere sozialen Beziehungen. Würden wir uns gegenseitig immer wahrheitsgetreu sagen, was wir gerade denken – das würde keine Beziehung aushalten.
Die Schattenseiten des Graubereichs
Doch wer andauernd lügt, verspielt die wichtigste Währung zwischen uns Menschen: Vertrauen. Für schwarze Lügen gilt das sowieso.
Auf lange Sicht haben aber auch weisse Lügen ihre Schattenseiten: «Wenn ich, um den Frieden zu wahren, nie die Wahrheit sage, geht das auf Dauer nicht gut. Wenn ich meine Partnerin nicht mehr attraktiv finde oder mich schon länger unwohl fühle in der Beziehung, das aber nie anspreche, verspiele ich das Vertrauen.»
Unsere Lügenkarriere
Die richtige Dosierung beim Lügen zu finden ist also gar nicht so einfach. «Wie häufig wir lügen, kommt auf unser Alter, das Geschlecht, die Lebensumstände und unsere Charaktereigenschaften an», erklärt der Lügenforscher.
Seine Metastudie, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen zeigt: Am meisten lügen wir als junge Erwachsene. Mit zunehmendem Alter wird das Flunkern, Tricksen und Schönreden seltener.
Statistisch gesehen lügen Männer etwas häufiger als Frauen. «Der Unterschied ist klein, aber er besteht», so Philipp Gerlach. «Männer neigen stärker zum schwarzen, also schädigenden Lügen. Frauen dagegen greifen häufiger zu weissen Lügen, um sich mit anderen besser zu stellen.»
Lügen will gelernt sein
Menschen sind keine geborenen Lügner. Erst zwischen drei und fünf Jahren lernen wir zu lügen. «Ganz kleine Kinder können das noch nicht», erklärt Psychologe Gerlach.
Die Wahrheit zu umgehen, erfordert nämlich einiges an Kognition und Sprachfertigkeit. «Wir merken allmählich: Was ich weiss, wissen andere womöglich nicht. Im Kindergarten realisiere ich etwa, dass die Leiterin nicht weiss, dass ich mit dem Gspänli in der Spielecke gestritten habe, wenn sie nicht dabei war.» Also unterschlagen wir ihr einfach, den Streit angefangen zu haben.
Kreative Köpfe können es besonders gut
Wenn wir die Kunst des Lügens mal gelernt haben, lassen wir nicht mehr davon ab: Wir lügen, was das Zeug hält – von der kleinen Schummelei bis zum grossen Betrug.
Einige sind besonders gut darin, das Blaue vom Himmel zu erzählen. «Erfolgreiche Lügnerinnen und Lügner haben ein gutes Gespür dafür, was andere hören wollen», so der Lügenforscher.
«Das hat mit Einfühlungsvermögen und Vertrauen zu tun. Aber auch mit Intelligenz und Kreativität.» Es sei nachgewiesen, dass kreative Menschen überdurchschnittlich häufig lügen.
Lügen als Wetzstein der Intelligenz
Das Lügen hat einen schlechten Ruf. Dabei ist die komplexe Fähigkeit ein Meilenstein in der kognitiven Entwicklung des einzelnen Menschen, aber auch der Menschheit.
Es gibt Theorien, wonach die Intelligenz des Menschen sich im Laufe der Evolution auch deshalb so entwickelt hat, weil wir immer raffinierteren Lug und Trug erfanden. Die Tricksereien wiederum triezten unsere Gehirne, bessere Lügendetektoren zu entwickeln.
Tierische Tricksereien
Judith Burkart ist Professorin für evolutionäre Anthropologie an der Universität Zürich. Sie beobachtet immer wieder, wie Affen einander Bären aufbinden: «Wenn ein rangniedrigeres Tier dem Chef der Gruppe eine Leckerei abjagen möchte, stösst es einen spezifischen Warn-Schrei aus, der sagt: ‹Achtung, Schlange!› Auch dann, wenn weit und breit keine Schlange zu sehen ist.»
Oder wenn ein rangniedriges Tier ein Futterversteck kennt, von dem die anderen in der Gruppe nichts wissen. Dann lernt das «wissende» Tier mit der Zeit Ablenkungsmanöver: Es rennt nicht sofort zum Futterversteck, sondern läuft erst ein bisschen in der Gegend herum, scheinbar desinteressiert, damit die anderen Affen ihm das Leckerli nicht gleich streitig machen.
Tiere kennen Täuschungsmanöver. «Je grösser die Gehirne, desto häufiger die Tricksereien», so die Anthropologin. Von Lügen würde sie aber trotzdem nicht sprechen: «Dazu braucht es eine ausdifferenzierte Sprache – und die haben Tiere nicht.» Auch weisse Lügen gebe es bei Tieren nicht.
Tiere unterstellen einander nichts
Noch etwas unterscheidet unser Lügen von tierischen Täuschungen: «Menschen sind gut darin, anderen Motive zu attribuieren», so die Kognitionsforscherin.
«Wir versuchen, uns in die Köpfe anderer hineinzuversetzen, um herauszubekommen, was sie denken und wissen.» Für unsere Fähigkeit zu lügen sei das entscheidend. Bei Tieren sei es hingegen fraglich, ob sie das könnten.
Wenn der Affe einen Schlangen-Warnruf absetzt, sei das Mittel zum Zweck: «Die Frage ist, was dabei im Affenkopf vorgeht. Überlegt er sich wirklich, ob der andere beim Schlangenruf erschrickt und wegläuft – und die Leckerei vor Schreck liegen lässt? Das wäre die menschliche Lesart», so Judith Burkart.
Was geht vor im Katzenkopf?
Ein anderes Beispiel für diese menschliche Interpretation: «Stellen Sie sich vor, Sie sitzen auf einem Stuhl, auf dem auch Ihre Katze gerne liegt. Plötzlich signalisiert der Vierbeiner Ihnen, dass er raus möchte. Als Sie aufstehen, springt die Katze auf den Stuhl und macht es sich bequem.»
Ein Trick? Nicht unbedingt. «Vielleicht hat sich bloss eine oft gemachte Erfahrung verfestigt oder es ist purer Zufall», erklärt die Expertin. Menschen würden dazu neigen, anderen Motive zu unterstellen – auch Tieren.
Der Mensch – das Tier, das lügen kann
Andere hinters Licht zu führen ist womöglich kein Alleinstellungsmerkmal des Menschen. Komplizierte Lügengeschichten zu erfinden hingegen schon. Menschen haben die Möglichkeit, sich mitzuteilen.
Wer seine Umgebung mit Worten beschreiben kann, kann auch ausschmücken, weglassen oder erfinden. Unsere Sprache ist derart ausdifferenziert, dass sie alles möglich macht: Lug und Trug, Erfindung und Wahrheit. Und die ganz grossen Geschichten.
Manchmal lassen wir uns auch gerne belügen. Grandios erzählte Geschichten sind oft gelogen. Wobei nicht immer klar ist, ob wir von unseren Erfindungen nicht irgendwann selbst überzeugt sind.
Aus Lügen werden Geschichten
Psychologe Gerlach verweist auf unser selektives Gedächtnis: «Nehmen wir die Anglerin, die ihren Freunden vom formidablen Fang erzählt und den Fisch bei jeder Erzählung grösser werden lässt.» Experimente zeigen, dass wir wie die Anglerin mit der Zeit selber an unsere Übertreibungen glauben.
Auch die Zuhörerenden haben etwas davon. Sie kommen in den Genuss einer guten Geschichte. Oder wie Lügenforscher Gerlach es formuliert: «Manchmal ist es eben gar nicht so klar, wo die weisse Lüge aufhört und die schwarze anfängt. Es gibt auch Lügen, die machen Spass, sind unterhaltsam oder eine Bereicherung. Ungelogen!»