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Was erreichen die Proteste? Die USA ersticken im Würgegriff des Rassismus

Was können die massiven Unruhen und Proteste in den USA bewirken? Vier Einschätzungen darüber, ob sich durch den Tod von George Floyd etwas ändern wird.

Mit diesen vier Experten haben wir gesprochen:

  • George Packer (Journalist bei «The New Yorker» und «The Atlantic»)
  • Hans Ulrich Gumbrecht (Literaturwissenschaftler an der Universität Stanford)
  • Jamal Joseph (Regisseur, Aktivist und ehemaliges Black Panther-Mitglied)
  • Siri Hustvedt (Schriftstellerin)

Acht Minuten und dreiundvierzig Sekunden ein Knie im Genick. Die Hände gefesselt auf dem Rücken. Der Kopf seitlich auf den Strassenbelag gedrückt. Eine röchelnde Stimme und die Worte «I can’t breathe». Bald darauf stirbt George Floyd.

Sein Tod war nicht irgendein Tod. Er starb an einem Würgegriff, der in manchen US-Staaten für Polizisten verboten ist. In Minneapolis ist er es nicht.

Würgegriff als Symbol

Der Griff bedroht die verletzlichste Stelle des Körpers und ist längst eine Metapher für Gewalt, Unterwerfung und die Inbesitznahme eines Körpers.

Auch die Sklaven wurden mit einer Kette um den Hals gefangen gehalten. Mit der Schlinge um den Hals wurde man gehenkt, am Galgen oder an irgendeinem Baum.

Warum findet diese Eruption ausgerechnet jetzt statt?

Der Autor und Journalist George Packer hat die gesellschaftliche, ökonomische und politische Krise erkundet, die das Land seit den 1980er-Jahren erfasst hat. Eine Krise wie ein Würgegriff, aus dem sich viele US-Bürger kaum befreien können.

George Packer

Schriftsteller und Journalist

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George Packer, geboren 1960, ist ein US-amerikanischer Schriftsteller und Journalist. Er schreibt für «The New Yorker» und «The Atlantic» und hat 2013 mit dem Bestseller «Die Abwicklung – Eine innere Geschichte des neuen Amerika» den ökonomischen Wandel der USA seit der Finanzkrise beschrieben.

SRF: Warum brechen diese Massenprotest ausgerechnet jetzt los?

George Packer: Es gab schon früher ähnliche Vorfälle wie diesen und natürlich auch Proteste, aber nichts ist vergleichbar mit diesem Video, das schockiert und entsetzt.

Die Demonstrationen begannen während der Covid-19-Pandemie. Hat diese Krise den Protest beschleunigt?

Die aufgestaute Energie und die Emotionen aus der dreimonatigen Quarantäne werden jetzt freigesetzt.

Die Menschen mussten drei Monate lang zuhause bleiben, wir erleben eine massive Arbeitslosigkeit, massives Leid.

Polizeigewalt ist in den USA kein neues Phänomen. Hat sich in den letzten Jahren nichts verändert?

Doch. Die Polizei leistet bessere Arbeit als früher. Aber sie ist auch in den letzten 20 Jahren immer schwerer bewaffnet worden. Sie hat sich militarisiert. Gleichzeitig haben wir eine schwer bewaffnete und gewalttätige Gesellschaft.

Warum werden ausgerechnet Afroamerikaner öfter Opfer von Polizeigewalt als Weisse, Latinos oder Menschen asiatischer Herkunft?

Die Beziehung zwischen der Polizei und der armen schwarzen Bevölkerung in den Städten ist seit Jahrzehnten voller Konflikte und Gewalt. Und die Beziehung zwischen der Polizei und den Schwarzen im Allgemeinen ist über die gesamte Geschichte dieses Landes eine der sozialen Kontrolle – keineswegs eine dienende oder schützende Kontrolle.

Rassismus ist ein gigantisches Problem. Man kann ihn nicht einfach so beenden.
Autor: George Packer Journalist

Werden die Proteste etwas verändern?

Rassismus ist ein gigantisches Problem. Man kann ihn nicht einfach so beenden. Man kann versuchen, ihn zu isolieren, ihn zum sozialen Gift zu erklären. Wenn es sich bei dieser Protestbewegung um eine Bewegung zur Beendigung des Rassismus handelt, wird sie enttäuscht werden.

Wenn ihr Ziel aber die Beendigung der Polizeibrutalität ist, sieht es anders aus: Es gibt inzwischen viele Ideen, die diskutiert werden, etwa einen Gesetzentwurf der Demokraten.

ein Mann hält eine US-Flagge mit den Wörtern "I can't breathe" auf
Legende: Eine ganze Nation erstickt: George Floyds letzte Worte «Ich kann nicht atmen» werden zur Hymne der Protestierenden. Keystone/EPA/JASON SZENES

Gewalt gegen Bürger im eigenen Land

Obwohl seit dem «Civil Rights Act» von 1964 Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe gesetzlich verboten ist, findet sie statt. Zwar sind die Bildungschancen für Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner in den letzten Jahren gestiegen, Chancengleichheit ist dennoch weit entfernte Utopie.

Während der Corona-Krise starben dreimal so viele Schwarze durch das Virus wie Weisse. Zahlen der Plattform Campaign Zero belegen, dass die Gefahr, bei einem Polizeieinsatz getötet zu werden, für Afroamerikaner drei Mal höher ist als für Weisse.

Hans Ulrich Gumbrecht kennt diese Fakten. Er lehrt seit 31 Jahren Literatur an der kalifornischen Elite-Universität Stanford. Sein Blick auf die USA ist differenziert, weil er die europäische Perspektive mitdenkt, die – zumindest in den Medien – oft hochmütig auf die Verhältnisse in den USA blickt.

Hans Ulrich Gumbrecht

Literaturwissenschaftler

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Hans Ulrich Gumbrecht, geboren 1948 in Würzburg, ist ein deutsch-amerikanischer Literaturwissenschaftler. Bereits mit 26 Jahren wurde er Professor an der Universität in Bonn, seit 1989 lehrt er an der Eliteuniversität Stanford. Er ist US-Staatsbürger und schreibt neben seinen literaturwissenschaftlichen arbeiten regelmässig für «Die Zeit», die «NZZ» und die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» über Politik, Geschichte und Sport.

SRF: War die Art und Weise, wie George Floyd zu Tode kam, der Auslöser für die Proteste?

Hans Ulrich Gumbrecht: Dieser Würgegriff hat mich leider Gottes nicht so stark überrascht, wie Sie sich das vorstellen. Aber das Knie am Hals: Das ist ja im wörtlichen Sinne eine Unterwerfung. Das ist nicht nur ein symbolischer Akt, es ist ein realer Akt. Wirklicher Rassismus.

Seit über 50 Jahren ist Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe in den USA verboten. Wieso geschehen dennoch diese brutalen Polizeiaktionen?

Eine solide Mehrheit, ungefähr zwei Drittel auch der weissen amerikanischen Bürger, verurteilt das, was in Minneapolis passiert ist aus tiefstem Herzen.

Es wäre ein Fortschritt, wenn der Polizei-Würgegriff überall verboten wäre.
Autor: Hans Ulrich Gumbrecht Literaturwissenschaftler

Es ist aber auch sehr einfach zu sagen: «Ja, ich bin ja dagegen. Ich begegne afroamerikanischen Mitbürgern mit Respekt, mit Sympathie.» Diese selbstzufriedene Begeisterung hilft nicht, die unbequemen Fragen zu stellen.

Welche unbequemen Fragen?

Mir ist beim Nachdenken über Polizeigewalt zum Beispiel aufgefallen, wie wenig die Rolle der Gefängnisindustrie betont wird.

Diese Gefängnisindustrie sieht vor, dass die Häftlinge für unterschiedliche Unternehmen als Arbeitskräfte dienen, für einen geringen Lohn. Vor allem die privatisierten Gefängnisse, in denen an die 120'000 Menschen ihre Strafen absitzen, sind damit ein wesentlicher ökonomischer Faktor.

Hans Ulrich Gumbrecht: Man kann gar nicht genug betonen, dass die Polizei verpflichtet ist, den privat unterhaltenen Gefängnissen jedes Jahr eine bestimmte Quote von Häftlingen zu liefern. Das ist drastisch!

Strukturell wird sich an der Situation der afroamerikanischen Männer nichts ändern, bevor sich nicht an dieser «Prison Industry» etwas ändert.

Welche Veränderungen können von der momentanen Protestwelle ausgehen?

Es wäre ein Fortschritt, wenn der Polizei-Würgegriff überall verboten wäre. Wenn Polizisten anders rekrutiert und ausgebildet würden. Und wenn die Gefängnisindustrie von Grund reformiert würde, man zum Beispiel die Quoten verbietet. Dann wäre der Todestag von George Floyd ein Tag, an den man sich erinnern wird.

Häftlinge arbeiten an einem Rohr im Wald
Legende: Für die US-Wirtschaft ist die Arbeit der Gefängnisinsassen essenziell. REUTERS / Lucy Nicholson

Am Anfang steht die Sklaverei

Der US-Aktivist Jamal Joseph hat den Kampf um Bürgerrechte für Afroamerikaner mitgekämpft – und war selbst Teil der «Prison Industry». Als Mitglied der militanten «Black Panther»-Bewegung war er fünf Jahre lang inhaftiert. Der Regisseur und Drehbuchautor ist auch heute an den Demonstrationen präsent.

Jamal Joseph

Regisseur

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Jamal Joseph, Filmregisseur und Drehbuchautor, geboren 1953, wuchs in der Bronx auf und wurde in den 1960er-Jahren Mitglied der militanten «Black Panther Party» und «Black Liberation Army». Dafür verbrachte er 12 Jahre im Gefängnis, wo er begann, Theaterstücke zu schreiben und aufzuführen. Jamal Joseph ist heute Professor für Film an der Columbia University in New York.

SRF: Die Gewalt des Staates und der Polizei gegen Afroamerikaner reicht weit zurück in der amerikanischen Geschichte.

Jamal Joseph: Allerdings. Die ersten organisierten Polizeiaktionen waren Aktionen gegen Sklaven. Die Aufgabe der Polizei war es, Sklaven zu fangen und zu bestrafen. So hat sich im amerikanischen Bewusstsein eingeprägt, dass Schwarze keine Menschen sind.

Viele Unternehmen machen Geschäfte mit Gefängnissen und verdienen Milliarden Dollar.
Autor: Jamal Joseph Aktivist

Auch heute wird mit Gefangenen Geld verdient. Das amerikanische Gefängnissystem ist ein Teil des strukturellen Rassismus in den USA.

Viele Unternehmen aus der Bekleidungs- und Telekommunikationsbranche machen Geschäfte mit Gefängnissen und verdienen Milliarden Dollar. Als ich im Bundesgefängnis sass, gab es Fabriken, die T-Shirts und Unterwäsche für das Militär herstellten und Postsäcke. Sie begannen mit der Herstellung von Glasfaserkabeln für die Telekommunikation, es gab ganze Callcenter. Und all die Gefangenen verdienen weniger als den Mindestlohn.

Kann man das mit Sklaverei vergleichen?

Diese Form von Unterdrückung war immer schon ein Geschäft. Die Sklaverei geschah nicht nur, weil die Weissen die Schwarzen hassten. Mit Sklaverei wurden enorme Gewinne erzielt. An der Wall Street ging es bei den ersten gehandelten Aktien um Geschäfte mit Sklaven. Sklavenhandel war ein profitables Geschäft.

Nicht nur Afroamerikaner demonstrieren gegen die Brutalität der Polizei. Auch viele Weisse, weltweit. Wo sehen Sie ihre Verantwortung?

Man kann nicht zusehen, wie ein anderer Mensch auf so unmenschliche Weise behandelt wird, ohne selbst Teil des Problems zu sein. Entweder ist man ein Teil der Lösung, oder man ist ein Teil des Problems.

eine schwarze Frau schreit in eine Menschengruppe
Legende: Frustration und Wut: Die Stimmung an den landesweiten Protesten in den USA gegen Polizeigewalt ist aufgeladen. Keystone / Jeff Siner / The Charlotte Observer

Wenn die Gesellschaft blind und krank ist

Das Problem betrifft alle. Die Polizeigewalt in den USA ist kein individuelles Problem einzelner Cops, kein Problem allein der strukturellen Gewalt in Amerika.

Am Anfang stand das Verbrechen der Sklaverei. Die Ursünde Amerikas, von der auch Europa profitierte. Sich dem zu stellen, ist die Aufgabe heutiger Generationen, meint die Schriftstellerin Siri Hustvedt. «Wenn all das anerkannt werden würde, wären wir nicht da, wo wir jetzt sind. Aber es wird versteckt und unterdrückt.»

Siri Hustvedt

Autorin

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Siri Hustvedt, geboren 1955, ist eine US-amerikansche Schriftstellerin und Essayistin. Siri Hust­vedts bis heute berühmtester Roman ist «Was ich liebte». Sie ist promovierte Literaturwissenschaftlerin, befasst sich aber auch intensiv mit Themen der Psychiatrie, Neuro­logie und Neurowissenschaften.

SRF: Sie engagieren sich gegen Diskriminierung und setzen sich gegen Rassismus ein. Wo wurzelt dieses persönliche Engagement?

Siri Hustvedt: Schon als Kind hat mich die Bürgerrechtsbewegung sehr beeindruckt. Ich habe damals viel gelesen, über die Abschaffung der Sklaverei, den Bürgerkrieg. Als Teenager habe ich angefangen, James Baldwin zu lesen. Ich lese ihn immer noch und möchte ihn zitieren: «Was immer Weisse über Schwarze nicht wissen, offenbart, was sie über sich selbst nicht wissen.»

Was bedeutet dieses Zitat für Sie?

Wir leben alle gemeinsam in einer kollektiven Wirklichkeit, wir leben miteinander. Doch wir Weisse wollen das, was in diesem Land geschieht, nicht sehen und verstehen. Nicht nur in der Strafverfolgung, sondern in jeder Institution. Stattdessen haben wir eine Hierarchie geschaffen, eine Hierarchie der Weissen über die Schwarzen.

Wir Weisse wollen das, was in diesem Land geschieht, nicht sehen und verstehen.
Autor: Siri Hustvedt Autorin

Wird sich durch den Tod von George Floyd etwas ändern?

Für viele Bürger war es schrecklich, dieses Video zu sehen. Es wurde oft gezeigt, immer und immer wieder wiederholt. Das ist sehr wichtig. Denn es geht nicht um den einen Polizeibeamten und sein Opfer. Es geht um die unzähligen Opfer, die es in der Geschichte der USA gegeben hat.

Die Menschen wollen, dass das endlich aufhört: Dass die Strafverfolgung nicht länger dafür missbraucht wird, einen Teil unserer Bevölkerung zu unterdrücken. Das schafft eine kranke Gesellschaft.

Sendung: SRF 1, Kulturplatz, 10.6.2020, 22:25 Uhr

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