In den letzten Jahrzehnten ist in vielen Ländern und global der Rohstoffverbrauch massiv gestiegen. Angesichts der planetaren Grenzen schlagen viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Alarm. Welche Alternativen es zum umweltschädlichen Wirtschaftswachstum gibt, weiss die Ökonomin Irmi Seidl.
SRF: Sie sind Wirtschaftswissenschaftlerin und forschen zu einer Ökonomie, die nicht konstant wächst und nicht von Wirtschaftswachstum abhängig ist. Ist es Konsens, dass wir nicht ewig weiterwachsen können?
Irmi Seidl: Wenn Menschen ehrlich nachdenken, sehen die meisten, dass die Wirtschaft nicht dauerhaft wachsen kann. Auch Ökonomen, die das Wachstum befürworten, sehen ein Ende des Wachstums. Viele sehen es in der fernen Zukunft, manche halten es überfällig.
Seit den 1950er-Jahren ist für viele Volkswirtschaften das Wachstum zur Selbstverständlichkeit geworden. Warum hängen Wohlstand und Wachstum so eng zusammen?
Wirtschaftswachstum ist kein Naturgesetz, sondern ergibt sich durch das ökonomische System und ist ein wirtschaftspolitisches Ziel. In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg ging es den Menschen dank des Wirtschaftswachstums tatsächlich besser. Sie bekamen warmes fliessendes Wasser, fuhren in die ersten Ferien, in der Schweiz kam die AHV.
Die Herausforderung ist, von der Wachstumsdynamik wegzukommen – aber die gesellschaftlichen Errungenschaften der letzten 70 Jahre beizubehalten.
Es etablierte sich ein Denken, dass mehr Wirtschaftswachstum Wohlstand bedeutet: Es geht einem besser. Allerdings stimmt dies ab den 1980er-Jahren nicht mehr. Die Wirtschaft wächst, aber das Wohlergehen stagniert oder geht sogar zurück.
Bereits vor 50 Jahren warnten die Wissenschaftler des «Club of Rome» in ihrem Bericht vor den Grenzen des Wachstums. Die Schreckensszenarien von damals sind verhallt, die Probleme jedoch sind geblieben. Kann es Wohlstand ohne Wachstum geben?
Die Menschen haben in den 1960er-Jahren auch gut gelebt. Zwar gänzlich anders, aber sie blieben mit ihrem Verbrauch innerhalb der planetaren Grenzen.
Die grosse Herausforderung ist, von der Wachstumsdynamik und Wachstumsabhängigkeit wegzukommen – und gleichzeitig die gesellschaftlichen Errungenschaften der letzten 70 Jahre beizubehalten.
Wir müssen die Sozialversicherung umbauen, so dass diese nicht weiter vom Wirtschaftswachstum abhängig ist.
Diese sind vor allem ein gutes Bildungssystem, soziale Absicherung, demokratische Mitsprache, Emanzipation, eine gewisse Individualisierung. Diese Wohlstandsdimensionen müssen wir auch in einer Ökonomie ohne Wachstum sicherstellen.
Sie sind Ökonomin und entwerfen Szenarien für eine Welt ohne Wachstum. Manche Ökonomen nennen das Postwachstumökonomie, Sie nennen das Postwachstumsgesellschaft, weil ein Umbau auch unser Zusammenleben betrifft. Was schlagen Sie konkret vor?
Wir müssen die Sozialversicherung umbauen, so dass diese nicht weiter vom Wirtschaftswachstum abhängig ist. Hinzukommt, dass der Staatshaushalt weniger von Einkommenssteuern abhängig sein sollte und mehr von Ressourcensteuern, Kapitalsteuern, Erbschaftssteuern. Letzteres auch, um die zunehmende soziale Ungleichheit zu reduzieren.
Zudem müssen wir sicherstellen, dass die Bereiche, die die Grundlagen der menschlichen Existenz sicherstellen, nicht einer Wachstumslogik und damit Wachstumstreibern unterworfen werden. Etwa beim öffentlichen Verkehr, der Bahninfrastruktur, der Wasserversorgung oder im Gesundheitsbereich. Hier haben Wachstums- und Profitorientierung nichts zu suchen.
Welchen Stellenwert hat die Besteuerung von Umwelt- und Energieressourcen?
Das Steueraufkommen des Staates besteht heute zu einem grossen Teil aus Abschöpfung auf Erwerbsarbeit, aber kaum auf Energie oder Umweltressourcen.
Eine Folge ist, dass dadurch Dienstleistungen sehr teuer sind. Im Sozialbereich sowieso, aber auch im Handwerk: Ein Beispiel: Der Elektriker, der einen Kühlschrank reparieren könnte, kostet viel – so viel, dass häufig ein neuer Kühlschrank gekauft wird.
Wenn Vorbilder zeigen, dass es auch anders gehen kann, werden Praktiken eher geändert. Das ist auch das Prinzip der Klimajugend.
In Österreich wurde im April der Reparaturbonus eingeführt. Der österreichische Staat bietet den Konsumenten für Reparaturen einen Zuschuss von bis zu 200 Euro. Für die Schweiz ist so was nicht zu erwarten, aber man könnte die Mehrwertsteuer für Reparaturen senken und so die Reparatur wieder attraktiv machen.
Sie sprechen die Verschwendung an. Wir Menschen kaufen beispielweise viel zu viele Kleider. Stichwort «Fast Fashion». Welche Rolle spielt Genügsamkeit für die Postwachstumsgesellschaft?
In der Postwachstumsgesellschaft muss sich der Konsum ändern, denn ein zentrales Element ist, dass wir innerhalb der planetaren Grenzen wirtschaften und leben. Wenn wir beispielsweise weniger Werbung oder Kaufanreize haben, welche das Wirtschaftswachstum erwiesenermassen erhöhen, würde die ständige Nachfrage sinken. Genügsamkeit oder Suffizienz spielt da eine wichtige Rolle, denn Menschen kommen dann damit gut zurecht.
Es gibt bereits viele Menschen, die für sich entschieden haben, ihren Konsum zu reduzieren. Wie bewerten Sie das Engagement Einzelner?
Individuen können grosse Vorbilder sein. Sie können helfen, aus Alltagsroutinen auszubrechen. Solche Routinen machen einen entscheidenden Teil unseres Lebens aus und sind oft sehr schwer zu ändern.
Wenn Vorbilder zeigen, dass es auch anders im Alltag gehen kann, werden Praktiken eher geändert. Das ist auch das Prinzip der Klimajugend: sie beeindrucken ihre Familien, beharren auf ihren Prinzipien und bringen damit Praktiken in ihren Familien ins Wanken.
Bei wem würde Suffizienz die grössten Effekte haben?
Der Umweltverbrauch hängt stark vom Einkommen und Vermögen ab. In der Schweiz haben die reichsten Menschen, also das oberste Einkommens- und Vermögensprozent, eine CO2-Emission von 196 Tonnen im Jahr, die obersten zehn Prozent 53 Tonnen. Dagegen verursachen die Ärmsten, also die untersten zehn Prozent, nur 4,4 Tonnen CO2.
Wichtig ist das Design von Produkten: Werden Gebrauchsgegenstände so gestaltet, dass man sie auch reparieren kann?
Es ist so, dass bei Menschen, die niedrige Einkommen und Vermögen haben, suffizientes Leben ökologisch keine grosse Wirkung hat – sie leben schon suffizient, bei den oberen 50 und den obersten 10 Prozent dagegen schon.
Können Sie Beispiele für staatliche Massnahmen nennen, die den Menschen helfen würden, genügsamer zu leben?
Sehr wichtig ist zum Beispiel das Design von Produkten. Werden Gebrauchsgegenstände so gestaltet, dass man sie auch reparieren kann?
Die Europäische Union hat beispielsweise beschlossen, dass ab 2024 nur noch einheitliche USB-C Ladekabel für Smartphones, Tablets und Digitalkameras gelten. Konzerne hatten sich dagegen gewehrt, aber die EU hat sich durchgesetzt. Man sieht also, dass die Politik durch Normierungen eingreifen kann. Die Ressourcen für Ladekabel waren schlicht zu billig, als dass sich die Industrie selbst organisiert hätte. Nun sollen durch die Regulierung 11 000 Tonnen Elektroschrott im Jahr vermieden werden.
Das Gespräch führte Katrin Becker.