Warlam Schalamow starb 1982 in Moskau, 74-jährig, vereinsamt. In jungen Jahren war er in die Mühlen des Stalinismus geraten. 18 Jahre verbrachte er in den berüchtigten Straflagern jener Zeit: im Gulag, dem Millionen zum Opfer fielen.
Die Jahre von 1937 bis zu seiner Entlassung 1951 war Schalamow in Lagern im Nordosten Sibiriens eingesperrt, in der Region des Flusses Kolyma. Stalin hatte die an Bodenschätzen reiche Gegend mit einem Netz von Lagern überziehen lassen, in denen die Häftlinge Sklavenarbeit zu leisten hatten. Bei arktischen Temperaturen bis minus 50 Grad.
Kolyma, der «Kältepol der Grausamkeit»
Über diese Erfahrung schrieb Schalamow ab den 1950er-Jahren ein monumentales literarisches Werk. Ohne Aussicht auf Publikation in der Sowjetunion. Ganz im Unterschied zum im Westen lebenden und weit herum gefeierten Gulag-Autor Alexander Solschenizyn.
Das Herzstück von Schalamows Werk bilden die über 150 «Erzählungen aus Kolyma». Schalamow bezeichnete die Region als «Kältepol der Grausamkeit». Mit beklemmender Nüchternheit stellte er das unerträgliche Leid dar. Der Lageralltag sei so bestialisch, dass sie jeden Menschen brechen könne, schrieb Schalamow.
Literatur könne die Menschheit nicht bessern
Schalamow wollte seine Texte nicht als Kunst im herkömmlichen Sinn verstanden wissen. «Ich glaube nicht an Literatur», schrieb er einmal. Sie könne die Menschheit nicht bessern. Und so sei es auch möglich, dass sich der Gulag als eine der grössten Menschheitskatastrophen wiederhole.
Sein Werk, betonte Schalamow, schildere selbst durchlittenes Leid, «damit die Menschen wissen, dass solche Erzählungen geschrieben werden, und dass sie sich selbst zu irgendeiner nachahmenswerten Tat entschliessen».
Seine Texte wirken bis ins Jetzt nach
Dieser Gedanke gemahnt in verstörender Weise an Russland heute: Wer Kritik an der Obrigkeit übt, lebt gefährlich. Wladimir Putin hat bereits vor dem Angriffskrieg gegen die Ukraine oppositionelle Stimmen wie Alexej Nawalny mundtot gemacht – und fährt damit fort. Es gehe um eine «notwendige Selbstreinigung», liess der Staatschef unlängst verlauten.
In Russland wagen sich nur noch wenige, ihren Dissens öffentlich zu äussern. Zu gross ist die Angst, wegen angeblichem «Verbreiten von Falschinformation» mit bis zu 15 Jahren Straflager sanktioniert zu werden. Tatsächlich steigt die Zahl der Justizverfahren gegen Kriegsgegner.
Russland, die Strafkolonie
Russland verfügt heute noch immer über ein Netzwerk aus Hunderten von Lagergefängnissen. Laut dem Bericht «World Prison Brief» der Universität London sitzen in Russland überdurchschnittlich viele Menschen hinter Gittern: Laut Zahlen von 2019 kommen auf 100'000 Einwohnerinnen und Einwohner 364 Inhaftierte. Rund 4,5-mal mehr als in der Schweiz.
Ehemalige Insassen berichten von allgegenwärtiger Rechtlosigkeit, von Gewalt und Demütigung. Weil der Unterhalt der Lager den Staat viel Geld kostet und zudem vielerorts grosser Bedarf an billigen Arbeitskräften besteht, sollen Häftlinge künftig verstärkt für schwere Arbeiten eingesetzt werden: Bau von Strassen, Eisenbahntrassen und Aufforstung.
Feinde sollen zum Schweigen gebracht werden
Zwar sind die Lager im heutigen Russland in Sachen Ausmass und Monstrosität nicht mit Stalins Gulag gleichzusetzen. Vergleichbar sind die Lager jedoch allemal: aufgrund der ähnlichen Haltung der politischen Führung, die diese Lager erst ermöglicht. Sie zielen darauf ab, politischen Dissens gewaltsam niederzuhalten.
Im Russland von heute ist Schalamow beklemmend aktuell. Mit seinem einzigartigen und noch immer viel zu wenig bekannten literarischen Werk. Und mit der damit verbundenen eindringlichen Forderung an uns Leserinnen und Leser, uns zu einer «nachahmenswerten Tat» zu entschliessen – und so dem Lager als Ort der Entmenschlichung schlechthin entgegenzutreten.