Der Stacheldraht wurde wenige Jahre vor der Geburt von Ewgenja Schaschewa vom Zaun um die Siedlung herum entfernt. Auch Wachtürme standen nicht mehr vor der Baracke, wo ihre Eltern während ihren Jahren in Lagerhaft gewohnt hatten.
Die 72-Jährige lebt heute noch immer in der Region Komi, knapp 50 Kilometer Luftlinie nördlich vom Arbeitslager entfernt, wo ihre Eltern einst inhaftiert waren.
Denn die Region verlassen, in die sie verbannt worden waren, durften ihre Eltern nicht. Ihr Vater versuchte vergeblich, von den sowjetischen Behörden die Bewilligung zu erhalten, um nach Moskau – seinem Wohnort – zurückzukehren.
Und so wuchs Ewgenja in einem Ort auf, der zum Gulag, dem Arbeitslagersystem der Sowjetunion, gehört hatte.
Was haben wir denn verbrochen?
Den Kampf des Vaters führt Ewgenja seit zwanzig Jahren durch alle Instanzen fort: «Es ist in erster Linie meine Pflicht im Gedenken an meinen Vater. Hinzu kommt meine eigene Sturheit. Was haben wir denn verbrochen?»
Geständnisse unter Folter
Der Vater von Ewgenja, Boris Nikolaewitsch Tscheboksarow, hatte nichts verbrochen, als er 1937 verhaftet und zu acht Jahren Verbannung verurteilt wurde. Er war einer von Millionen von Menschen, die in der Sowjetunion unter Diktator Stalin unschuldig für Jahre in Haft kamen.
Zeitgleich mit dem Vater wurde auch Ewgenjas Grossvater festgenommen. «Wir wussten nicht, dass mein Grossvater erschossen wurde. Erst zu Beginn der 2000er-Jahre erfuhr ich dies im Archiv des Innenministeriums in Moskau.»
Beim Lesen der archivierten Befragungsprotokolle der sowjetischen Geheimpolizei verstand Ewgenja, dass man ihren Vater und Grossvater gefoltert hatte. Den Vater hatte man unter Folter zu Aussagen gezwungen, die man anschliessend als angeblichen Beweis herbeizog, um den Grossvater zum Tode zu verurteilen und in einem Vorort von Moskau zu erschiessen.
Gesetz ohne Umsetzung
Bis zum heutigen Tag wurde keiner der Täter von einem Gericht wegen der Verbrechen zu Zeiten des sowjetischen Terrors verurteilt. Unter Boris Jelzin wurde ein Gesetz verabschiedet, das den Kindern von Opfern das Recht verbürgt, in den Ort zurückzukehren, in dem deren Eltern zum Zeitpunkt ihrer Festnahme lebten. Der Staat verpflichtete sich zudem, den Opfern der Repression eine Wohnung bereitzustellen.
Bis heute wird dieses Gesetz jedoch nicht umgesetzt. Die Behörden schieben einander vielmehr gegenseitig die Verantwortung in die Schuhe. Während Jahrzehnten wurde die Repression in der Sowjetunion totgeschwiegen. «Als ich ein Kind war, wurde über dieses Thema nicht gesprochen», erzählt Ewgenja beim Gespräch in ihrer Wohnung.
Die Strasse der Knochen
Der Weg ins Lager ist auf den schlechten Strassen für Ewgenja zu weit und mit zu vielen schlimmen Erinnerungen verbunden. «Als Kind bin ich unterwegs auf einem Transportfahrzeug im Winter einmal fast erfroren.»
Die Strasse ins Lager wurde von Häftlingen gebaut, die meisten von ihnen waren deutschstämmige Frauen, die bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges von Stalin ins Lager geschickt wurden.
In der Gegend wird die Strasse bis heute «Strasse der Knochen» genannt. In den Wäldern links und rechts von der Strasse liegen Häftlinge begraben. Öffentlich ist bis heute nicht bekannt, wer beim Bau der Strasse ums Leben gekommen ist und wo die Menschen begraben sind.
Mein Vater ermahnte mich: ‹Auf den kleinen Hügeln wird nicht gehüpft. Das sind Gräber.›
Vor der Abzweigung ins ehemalige Lager steht ein Holzkreuz. Aufgestellt erst vor wenigen Jahren für die Opfer politischer Repression.
Als Ewgenja ein Kind war, stand hier noch kein Kreuz. Die Erwachsenen wussten dennoch alle Bescheid: «Wir gingen mit dem Vater Pilze im Wald sammeln. Mein Vater ermahnte mich: Auf den kleinen Hügeln wird nicht gehüpft. Ich habe gefragt: warum? Mein Vater sagte mir: ‹Das sind Gräber.› Ich habe damals nicht gefragt, weshalb hier Leute begraben waren, wo es doch einen ganz anderen Friedhof gab. Die Ermahnung des Vaters habe ich nie vergessen.»
Ein Wettlauf gegen die Zeit
Mit zwei weiteren Betroffenen gelangte Ewgenja vor zwei Jahren bis vor das höchste Gericht des Landes. Obwohl das Verfassungsgericht zugunsten der klagenden Töchter ehemaliger Lagerhäftlinge entschied, ist zwei Jahre später die Sache noch immer nicht weiter gekommen.
Für Ewgenja und alle anderen Betroffenen ist es ein Wettlauf gegen die Zeit: Sie selbst versteht das so, dass entschieden wurde, dass sich die Frage mit der Zeit von selbst lösen werde. Dies, weil sie Menschen in hohem Alter betreffe und diese wegsterben würden. «Niemand wird mehr Fragen stellen. Gibt es keine Betroffene mehr, gibt es keine Probleme.» Zwei Jahre sind vergangen, und es leben gerade noch einmal 1500 Menschen.