Unter einem bürokratischen Vorwand wurde am Dienstag die älteste Menschenrechtsorganisation Russlands aufgelöst. Die Richterin des obersten Gerichtes stimmt der Anklage der Generalstaatsanwaltschaft zu, dass die Organisation nicht ausreichend darauf hingewiesen habe, dass es sich bei Memorial um einen «ausländischen Agenten» handle.
Dass es sich dabei um einen vorgeschobenen Grund handelt, dürfte jeder und jedem in Russland seit Bekanntwerden der Anklage klar gewesen sein. Im Kern ging es am Dienstag vor Gericht um nichts weniger als die staatliche Monopolisierung der Geschichtsschreibung.
Unklare Gesetze höhlen Rechtsstaat aus
Die Art, wie gegen die russische Zivilgesellschaft vorgegangen wird, trägt klar die Handschrift des Präsidenten, eines ausgebildeten Juristen. Dieser lässt Gesetze verfassen und verabschieden, welche derart unklar formuliert sind, dass es unmöglich ist, die Gesetze zu befolgen. Damit wird jeder und jede zu einem potenziellen Gesetzesbrecher. Spitzfindige Beamte können beliebig Verstösse feststellen und damit jede unliebsame Organisation zu einem ausländischen Agenten erklären und anschliessend zur Auflösung zwingen.
Aus Sicht des Gesetzgebers mag dies praktisch sein, doch damit macht sich der Staat keinen Gefallen, sondern zerstört sich langfristig selbst. Denn ist der Rechtsstaat erst einmal völlig ausgehöhlt, ist niemand vor der Willkür des Staates mehr sicher.
Der Kreml will die alleinige Hoheit für sich beanspruchen dürfen, an die Geschichte des Landes zu erinnern. Eine Organisation wie Memorial, welche sich mit den dunkelsten Kapiteln der Sowjetunion befasst und dabei versucht, der Komplexität der Ereignisse gerecht zu werden, ist aus Sicht der russischen Regierung störend. Denn an die Geschichte des Landes will der Kreml möglichst nur zu populistischen Zwecken und möglichst nur dann erinnern, wenn es Wladimir Putin nützlich scheint, um sich den eigenen Machterhalt zu sichern.
Schwäche des Kremls
Im Unterschied zur Sowjetunion biegt sich Wladimir Putin die Geschichtsschreibung nicht entlang einer Ideologie zurecht. Er leugnet weder die Existenz von sowjetischen Lagern, noch leugnet er die Tatsache, dass Millionen Menschen völlig unschuldig verurteilt und zu Zwangsarbeit gezwungen wurden. Doch den Menschen in Russland will er vorschreiben, wie sie sich daran zu erinnern haben.
Das Urteil zur Zwangsauflösung von Memorial ist nicht nur ein Armutszeugnis für das Justizsystem in Russland, sondern auch ein Zeichen der Schwäche des Kremls. Wäre sich der russische Präsident seiner Macht wirklich sicher, müsste er keine Organisation unter vorgeschobenen Gründen verbieten lassen.
Die Schäden, welche der russischen Gesellschaft durch das Urteil dabei langfristig zufügt werden, dürften noch in Jahrzehnten spürbar sein. Und damit selbst über die Amtszeiten eines Wladimir Putins hinaus.