April 2017. Im Irak ist Krieg. Der Tiergarten von Mossul ist verlassen, die Pfleger entweder erschossen oder geflohen. «Es stank nach Kadavern, nach Fäkalien. 52 Tage lang hatte niemand diese Käfige geputzt», sagt der Tierarzt Amir Khalil.
Tiere lagen zwischen Skeletten. «Die Bärin Lula hatte ihre zwei Babys gegessen. Zimba war ein junger Löwe. Seine Mutter hatte den Vater gegessen, weil sie hungrig war. Den Sohn hatte sie nicht gegessen und starb.»
Amir Khalil sitzt im Wiener Büro von «Vier Pfoten», die Hilfsorganisation, für die er seit 26 Jahren arbeitet. Er erzählt von seiner Mission in Mossul: Die irakische Armee habe gegen den IS gekämpft. Häuser, Geschäfte waren verlassen, Rauchwolken, einschlagende Granaten. Wahllos wurden Menschen von Scharfschützen erschossen. Der Tiergarten habe dem IS zeitweise als Unterschlupf gedient. Von den ursprünglich 86 Tieren waren die meisten verhungert.
Amir Khalil soll die Tiere aus dem Kriegsgebiet bringen. Betäubungsmittel hat er dabei, aber nicht genügend Impfstoff und Medikamente. Er besorgt sie. Das dauert zwei Tage.
Er versorgt die Tiere, zusammen mit einem lokalen Veterinär, der hat seiner Frau «lieber nicht gesagt, wohin er geht und was er da genau macht». Der Löwe und die Bärin sind schwach, sie müssen aufgepäppelt werden. Aber wie abtransportieren?
Eine gefährliche Lage
Der örtliche Kommandant der irakischen Armee sagt Unterstützung zu. Zwei Wagen der Armee kommen. Eine Autobombe explodiert. Vor dem Tiergarten: eine grosse Menschenmenge, Chaos, Streit.
«Einige haben gesagt, die Tiere dürften nicht raus, der Tierbesitzer wolle erst Geld haben. Wenn wir nicht zahlen, würden sie uns umbringen. Die Lage war gefährlich, die Menschenmenge, der Streit eskalierte, Drohnen flogen. Wir waren ein richtiges Ziel: Armee, Tiere, Ausländer und Medien», erinnert sich Khalil.
«Eine Bärin und ein Löwe sind keine Terroristen»
Khalil betäubt den Löwen und die Bärin und transportiert sie mithilfe der Armee ab. Kurz vor der Grenze werden sie von einer anderen Einheit der irakischen Armee gestoppt. Ein Soldat sagt: «Die Tiere müssen zurück in den Tiergarten.» «Wieso?» «Das ist ein Befehl von ganz oben.» Also wieder zurück.
Irgendwann ein Treffen, «zu dem ich allein kommen sollte, jemand sagte, wir hätten die Tiere gestohlen. Ich konnte das aufklären».
Dann kommt die Ansage, Khalil und sein Team dürften aus Mossul nicht raus, Terroristen dürften nicht die Grenze überqueren. Er brauche erst eine Bescheinigung, dass er keine Terroristen dabeihabe. «Ich habe versucht, zu erklären, dass eine Bärin und ein Löwe keine Terroristen seien. Das klingt vielleicht lächerlich, aber so war es. Ich musste auf einen Militärstützpunkt und habe das dort erklärt.»
Zwischen den Fronten
Aber auch das hilft nicht weiter. Sie stecken fest, über die Grenze dürfen sie nicht, in Mossul bleiben ist lebensgefährlich.
«Ich habe einen Plan B gemacht, die Tiere auf einem anderen Weg zu einem Flugzeug gebracht und nach Jordanien ausgeflogen. Die positive Erfahrung für mich und das Team war aber: Wegen der Streitereien zwischen den Militärs, ob wir jetzt über die Grenze dürfen oder nicht, stoppte die Offensive für zwei Tage. Zwei Tage lang gab es keine kriegerische Auseinandersetzung.»
Erst ein Selfie – dann weiterkämpfen
Khalil erzählt mit viel Galgenhumor: «Eigentlich sind meine Haare weiss, sie sind nur gefärbt.» Er lacht, dann verschwindet der Glanz aus seinen dunklen Augen.
Viele dieser Einsätze habe er gemacht, «sehr viele». Konkreter wird er nicht. Aus einem Flüchtlingslager in Gaza habe er zwei kleine Löwen rausgeholt, die waren süss, solange sie klein waren. Aber irgendwann gingen sie auf Kinder los. Auch diese Mission war schwierig.
Auch hier steht er irgendwann zwischen den Fronten, darf nicht nach Gaza zurück, Sperrstunde. Nach Israel darf er nicht: «Das ist mein Hobby. An einer Grenze stehenzubleiben.»
Er lacht wieder. Zwei Tage steht er da, dann darf er passieren: «Das ist immer wieder berührend. Ganz egal, an welche Grenze wir kommen, die Menschen legen ihre Waffen auf den Boden und wollen erst mal ein Selfie mit den Tieren machen. Wenn wir weg sind, kämpfen sie weiter. Das war in Israel so, in Aleppo, in Mossul, ganz egal wo.»
Von «Daktari» zu «Vier Pfoten»
Khalil sagt über sich, er sei «ein streunender Hund. Ich spreche viele Sprachen, aber keine richtig – ausser Ägyptisch». Er spreche Englisch, Deutsch, Arabisch, Koptisch, «aber nur in der Kirche, nicht im Interview». Er lacht und sieht aus wie jemand, der seinen Platz in der Welt gefunden hat.
Als er zehn Jahre alt war, hat er die US-amerikanische Tierserie «Daktari» geschaut: «Im ägyptischen Fernsehen gab es nicht so viel zu sehen. Mich hat das sehr beeindruckt, dieser Mann in Shorts, in Khakikleidung, mit einem schielenden Löwen und einer Schimpansin, aber ich habe nie gedacht, dass daraus einmal etwas wird. Es war ein Traum.» Der Traum ist für Khalil wahr geworden.
Heute treibt ihn noch etwas anderes an: «Ich war auf einem Markt, da hat man Frauen verkauft. Ich hasse Sklaverei, egal ob bei Menschen oder Tieren. Freundlichkeit heisst, zu allen Geschöpfen freundlich zu sein, zu Mann, Frau, Kind und Natur.»
Die Männer, die für Menschenrechte kämpften, kämpften häufig nur für Männerrechte. Sie seien unfreundlich zu Frauen, Kindern, der Natur. «Sie reden aber viel von Freiheit. Das ist schizophren. Dagegen kämpfe ich.»