Es brauchte wenig, um negativ aufzufallen. Bei der 17-jährigen Lina reichte Ende der 1960er-Jahre ein heimlicher Ausflug in die Stadt und ein angeblicher Diebstahl, um zur «Nacherziehung» in ein Heim gesteckt zu werden. Nachdem sie aus dem Heim abhaute, wurde sie «adminstrativ versorgt». Sprich, sie wurde ohne Anklage oder Prozess in ein Gefängnis gesperrt.
Ein ähnliches Schicksal wie die Hauptfigur im Spielfilm «Lina» hat in der Schweiz tausende Jugendliche, aber auch erwachsene Männer und Frauen ereilt. Sie wurden von den Behörden in Heime oder Gefängnisse eingewiesen – als Begründung wurden etwa «Liederlichkeit» oder «Arbeitsscheu» angeführt. Für viele Betroffene hatte diese administrative Versorgung gravierende Folgen, die über mehrere Generationen hinweg bis heute spürbar sind.
Späte Bemühungen um Wiedergutmachung
1981 wurde die administrative Versorgung auf Druck der Europäischen Menschenrechtskonvention abgeschafft. 2010 entschuldigte sich Bundesrätin Widmer-Schlumpf im Namen des Bundesrates bei den Opfern, 2014 trat das Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen in Kraft. Eine unabhängige Expertenkommission erhielt in der Folge den Auftrag, die Ereignisse wissenschaftlich aufzuarbeiten. Ein runder Tisch soll zudem gemeinsam mit den Opfern eine finanzielle Wiedergutmachung in die Wege leiten.
Der Film «Lina» will dem Thema weitere Öffentlichkeit verschaffen. Eine Woche vor der TV-Ausstrahlung wurde der Spielfilm Betroffenen und Experten gezeigt. Im Gespräch mit ihnen wird rasch klar: Der Film weckt Emotionen. Denn das Thema der administrativen Versorgung ist weit davon entfernt, abgeschlossen zu sein – es ist noch vieles zu klären.
Lisa-Yolanda Hilafu, Betroffene
«Bei mir ist durch den Film vieles wieder hochgekommen. Ich wurde selbst adoptiert und mir wurden auch die eigenen Kinder weggenommen – ich kann mich also sowohl in Lina als auch in ihr Kind hinein versetzen. In meiner Familie sind vier Generationen betroffen, es endet einfach nie. Bis wir Betroffenen Gerechtigkeit erfahren, muss noch viel passieren. Ob es überhaupt eine Entschädigung geben wird, muss sich erst noch zeigen.»
Loretta Seglias, Mitglied der unabhängigen Expertenkomission
«Eine öffentliche Diskussion zum Thema hilft auch unserer Arbeit. Die Wissenschaft kann in die Tiefe gehen, Zusammenhänge herstellen, die Betroffenen zu Wort kommen lassen. Aber wir können diese Unmittelbarkeit, die ein Spielfilm dem Thema geben kann, nicht herstellen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist mit dem Rehabilitationsgesetz und der Schaffung der unabhängigen Expertenkommission ein wichtiger Schritt gemacht worden.»
Andreas Jost, Betroffener
«Was der Film gut vermittelt, ist das seelische Leid der Betroffenen. Aber der Film geht am Thema vorbei, weil er die heutigen Probleme der Betroffenen nicht zeigt. Etwa die Frage, warum wir immer wieder von Geld reden. Wir sind nicht geldgierig. Aber wenn ein Mensch ein Leben lang von finanziellen Sorgen geplagt wird, dann geht das an die Gesundheit. Von einer Aufarbeitung spüre ich nichts. Wir Betroffenen müssen stärker miteinbezogen werden. Wir sind am runden Tisch, aber wir haben nichts zu sagen.»
Markus Notter, Präsident der unabhängigen Expertenkomission
«Der Film ist sehr berührend. Er zeigt, dass diese Geschichte nicht etwas ist, das einfach früher mal passiert ist, sondern dass es Lebensgeschichten sind, die heute präsent sind. Unsere Aufgabe ist die Rehabilitation – also zu anerkennen, was passiert ist und Respekt zu haben vor dem Leid. Was es für eine Wiedergutmachung braucht, müssen schlussendlich die Opfer selbst sagen. Wenn eine breite Öffentlichkeit zur Kenntnis nimmt, was hinter ihren Geschichten steht, fällt ihnen das vielleicht leichter.»
Ruth Nussbaum, Betroffene
«Für mich ist der Film nichts. Ich habe im Fernsehen Ausschnitte gesehen und musste gleich umschalten. Es hat mich zu sehr daran erinnert, wie ich selbst missbraucht wurde. Ich wollte den Film nicht sehen, ich wäre ohnmächtig zusammengebrochen. Es ist gut, dass den Leuten die Augen darüber geöffnet werden, dass Menschen unschuldig ins Gefängnis gekommen sind. Ich glaube daran, dass es gut herauskommt. Aber es braucht viel Zeit.»
Mike Schaerer, Regisseur von «Lina»
«Bei der Arbeit an diesem Film war schwierig, dass man den Schicksalen der Betroffenen gerecht werden will, das man keine Verharmlosung zeigen möchte. Ich hoffe, dass der Film etwas bewirken kann. Wenn das Thema mehr Öffentlichkeit bekommt, kann vielleicht die Hemmschwelle für Betroffene sinken, ihr Geschichten öffentlich zu machen. Es gibt viele Menschen, bei denen selbst die eigene Familie nicht weiss, was sie durchgemacht haben. Es ist nicht eine Geschichte, die vor langer Zeit passiert ist – die Betroffenen sind noch da.»
Ursula Biondi, Betroffene
«Ich finde es wichtig, dass der Film die Auswirkungen anhand von drei Generationen zeigt. Das Leiden geht über Generationen hinweg immer weiter. Ich glaube, dass der Film etwas bewirken kann. Er soll aufrütteln, zum Nachdenken anregen. Es gibt noch Tausende Linas – und Ruedis, Röbis, Juliens… Es geht um aufgezwungene Schicksale eines hinterlistigen Zweiklassensystems. Nicht nur um administrativ Versorgte, sondern auch um andere Systemgeschädigte. Die Gesellschaft muss heute genau hinschauen, damit das nicht wieder geschehen kann.»
Bilder: SRF/Thomas Züger