Ofelia Fernández, Argentinien: «Trotzdem machen» als Lebenseinstellung
Es ist der 14. Juni 2018, 10 Uhr. Soeben hat die argentinische Abgeordnetenkammer nach 20 Stunden Debatte für eine Legalisierung von Abtreibungen gestimmt.
Auf den Strassen rund um den argentinischen Kongress brechen Hunderttausende Frauen in Jubel aus. Ihre Mahnwache mit den grünen Kopftüchern – inzwischen weltweit das Symbol im Kampf um das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche – hat Wirkung gezeigt.
Mittendrin die Schülerin Ofelia Fernández. Sie ist völlig übermüdet, aber unfassbar glücklich. «So was gab es noch nie», sagt sie heute, «ich werde es noch meinen Enkeln erzählen. Das war eine Zäsur.»
Gegen verkrustete Strukturen
Auch wenn das Gesetzesprojekt später im konservativen Senat scheitert: Die monatelange Abtreibungsdebatte hat Argentinien verändert. Die sogenannte Revolution der Töchter hat den Feminismus auf die Strasse getragen, den Kampf gegen verkrustete Strukturen, Kirche und Machismo.
Ofelia Fernández gilt als ihre bekannteste Stimme – die Fingernägel so grün wie das symbolische Kopftuch und Billie Eilish auf der Playlist. Während der Debatte im Kongress hatte sie eine eindrucksvolle Rede vor den Abgeordneten gehalten und mit scharfer Zunge die alten weissen Männer herausgefordert.
Heute sitzt Ofelia Fernández selbst im Parlament, wenn auch erst demjenigen der Stadt Buenos Aires: Sie ist die jüngste Abgeordnete ganz Lateinamerikas.
«Vorlaute Göre»
Ofelia Fernández wurde zum Jahrtausendwechsel geboren. Sie wächst auf in einer Zeit, in dem ganz Lateinamerika nach links rückt und in Argentinien die erste Frau in den Präsidentenpalast gewählt wird.
Schon als Elfjährige guckt Ofelia lieber Cristina Kirchners Reden als TV-Serien. Mit 13 beginnt sie selbst, sich politisch zu engagieren, was ihr den Spitznamen «vorlaute Göre» einbringt.
«Ich habe halt gesagt, was ich zu sagen hatte. Das kam nicht gut an», erzählt sie in ihrem Büro. «Ich machte es trotzdem. Und es trotzdem zu machen, das ist für mich eine politische Entscheidung und eine Lebenseinstellung.»
Jung, weiblich, Feministin
Mit 15 wird sie selbst als erste Frau zur Präsidentin des Schülerausschusses am Colegio Pellegrini gewählt, einer der besten öffentlichen Schulen des Landes. Sie organisiert Schulstreiks gegen die marktorientierte Bildungsreform der Stadtregierung, bringt die #MeToo-Debatte ins Klassenzimmer und debattiert in TV-Talks mit Politikern, die viermal so alt sind wie sie, über integralen Sexualunterricht.
Das macht sie zum Lieblingsziel von Hetzkampagnen. «Ich repräsentiere alles, was die ablehnen: Ich bin jung, eine Frau, Feministin.»
«Hier drinnen bestimmen die da draussen»
In ihrem Arbeitszimmer im vierten Stock des altehrwürdigen Stadtparlaments von Buenos Aires hängt ein Schild an der Wand: «Hier oben regieren die da unten. Hier drinnen bestimmen die da draussen.»
Ofelia Fernández wird 2020 weiter für die Legalisierung von Abtreibungen auf die Strasse gehen. Ein entsprechendes Gesetzesprojekt wird dem Nationalkongress in Kürze vorgelegt – und zwar vom frisch gewählten Präsidenten Alberto Fernández selbst, dessen Regierungskoalition «Frente de Todos» die 19-jährige Ofelia Fernández (nicht verwandt!) angehört. Dieses Mal kommt es durch, da ist sich Lateinamerikas jüngste Abgeordnete sicher.
Anne Herrberg, freie Korrespondentin in Buenos Aires
Soem Da, Kambodscha: Mit dem Rollstuhl ins Nationalteam
Mit schnellen Stössen treiben die Spielerinnen des «Kampong Speu Golden Bees»-Teams ihre Rollstühle über den Sportplatz. Die 29-jährige Soem Da hat sich in der Nähe des Korbs platziert. Sie ruft, lässt sich den Ball zuwerfen und zielt. Sie mag diesen Moment, kurz bevor sie den Ball abspielt, sagt Soem Da: «Du musst komplett fokussiert bleiben. Das hat mich der Sport gelehrt: zu fokussieren, auch im Leben.»
Soem Da spielt erst seit 2019 Rollstuhlbasketball. Trotzdem ist sie bereits Teil des 13-köpfigen kambodschanischen Nationalteams. Wer sie so konzentriert und mit grossem Eifer spielen sieht, weiss wieso.
«Früher hatte ich keine Freunde»
Soem Da leidet an Poliomyelitis, auch Kinderlähmung genannt, und kann deshalb nicht gehen. Wer in Kambodscha behindert ist, findet oft keine Arbeit. Staatliche Unterstützung gibt es genauso wenig wie rollstuhlgängige Wege.
Noch schlimmer sei das Stigma, sagt Soem Da: «Früher hatte ich keine Freunde. Die Leute schauten auf mich herunter. Ich war zu scheu, um das Haus zu verlassen.»
Die zierliche Frau mit den breiten Schultern kommt aus einer armen Bauernfamilie. Soem Da hat sieben Geschwister.
Jeder Tag ist ein Überlebenskampf, jedes Familienmitglied, das nicht arbeiten kann, eine Bürde. Das Rehabilitationszentrum von Kampong Speu, das vom IKRK unterstützt wird, ist für Soem Da der Ort, an dem sie sich mit Menschen, die ein ähnliches Schicksal teilen, austauschen kann.
«Heute wage ich mich sogar, ins Ausland zu reisen»
Hier begann sie vor einem Jahr im Rollstuhlbasketball-Team mitzuspielen. Im vergangenen November konnte sie mit dem Nationalteam nach Thailand reisen, um dort an den Ausscheidungsspielen für die Olympiade teilzunehmen. Qualifiziert hat sich das kambodschanische Team nicht, aber die Frauen sind stolz, dass sie Afghanistan und Indien geschlagen haben.
Für Soem Da ist Basketball jedoch viel mehr als ein Wetteifern um Ränge: «Basketball hat mich stark und mutig gemacht. Heute wage ich mich sogar, ins Ausland zu reisen. Wenn ich danach von einem Spiel zurückkomme, fragen mich nun jene Leute, die mich früher gemieden haben, wie es war und was ich gesehen habe.»
Dann gibt Soem Da bereitwillig Auskunft – erfüllt vom Stolz und der Freude, die der Rollstuhlsport in ihr Leben gebracht hat.
Karin Wenger, SRF-Südostasien-Korrespondentin
Muthoni Drummer Queen, Kenia: Die Wegbereiterin Kenias alternativer Musikszene
Mitten im Meeting klingelt das Telefon. Der Produzent aus der Schweiz ist dran. Rasch bespricht Muthoni Ndonga mit ihm eine Idee für den neuen Song, dann ist sie zurück am Sitzungstisch mit ihrem Social-Media-Team.
Wenn die kenianische Musikerin Muthoni Drummer Queen einen Song lanciert, sind viele Leute involviert. «Ich leite die Teams», erzählt sie, «mit den Produzenten mache ich die Musik. Mit anderen sorge ich mich um Werbung, Internet und die Gestaltung des Albums.» Die Teams arbeiten auf drei verschiedenen Kontinenten.
Die Musikindustrie hatte nicht auf sie gewartet
Der Karrierestart als Frau in Kenia war schwer. Niemand hatte vor 12 Jahren auf eine freche, kurzgewachsene Rapperin mit violetten Dreadlocks und überzogenen Outfits gewartet. Die Musikindustrie wollte hübsche Sängerinnen. Muthoni war auf sich selbst gestellt: «Ich wünschte, das wäre anders gewesen.»
Doch die Kenianerin schlug sich durch, auch gegen Widerstand in ihrer Familie. Die Mischung aus Rap und Popmusik begeisterte zunächst ein Publikum in Europa. Heute gilt Muthoni Drummer Queen auch in Kenia als arrivierte Künstlerin.
Unterstützung für andere junge Bands
Frausein ist in Muthonis Schaffen präsent. Im neusten Song «Power» fordert sie, dass sich Frauen nicht mehr bevormunden lassen: «Wir müssen unsere eigene Geschichte erzählen!»
Dafür nutzt die Kenianerin das Internet. Mit Untertiteln im Video oder mit erklärenden Tweets sorgt sie dafür, dass die Botschaft ihres Songs ankommt.
Längst ist Muthoni mehr als Musikerin. Sie merkte früh: In Afrika gibt es zu wenig Plattformen für Künstler. Also begann sie, Musikfestivals durchzuführen.
Dadurch wurde ihr bewusst, dass jungen Bands in Kenia oft die technischen und organisatorischen Grundlagen fehlen, um professionell aufzutreten. Was sie gelernt hat, gibt sie nun mit einer Musik-Akademie weiter. «Ich bin die Wegbereiterin», grinst Muthoni Ndonga, «die Chef-Wegbereiterin der Szene!»
Samuel Burri, SRF-Afrikakorrespondent
Lisa Becking, Niederlande: Dank einer Schwimmbrille zur Meeresforscherin
Ihre Liebe zum Meer begann mit einer Schwimmbrille, die sie als kleines Mädchen von ihrer Mutter bekam. Lisa Becking entdeckte all die Formen und Farben unter Wasser und wurde neugierig.
Dieser Wissensdurst ist bis heute die wichtigste Triebfeder: «Ich will noch immer die ganze Diversität des Unterwasserlebens begreifen lernen», sagt Lisa Becking.
Der Mond ist besser erforscht als das Meer
Die Hälfte des Sauerstoffs in der Atmosphäre werde von Meereswesen produziert, erklärt die Dozentin der Universität Wageningen. Jeder zweite Atemzug eines Menschen ist also diesen Organismen zu danken.
Die Niederländerin erzählt, dass es zwischen einer und zwei Millionen Tiere und Pflanzen im Meer gebe – aber nur etwa 300'000 bisher beschrieben worden seien. Ein Affront, findet die 41-Jährige, vor allem wenn man bedenke, wie viel mehr von der Oberfläche des Mondes bekannt sei.
200 Meter tief mit dem Mini-U-Boot
Zu Beginn ihres Studiums träumte die Forscherin davon, neue Lebewesen zu entdecken. Inzwischen hat sie 15 bisher unbekannte Schwammsorten beschrieben. Und eigentlich hätte sie noch «einen Schrank voller Schwämme, die noch einen Namen bekommen müssen» – aber dafür fehlt ihr im Moment die Zeit.
Neben ihrer Arbeit als Assistenz-Professorin berät sie Regierungen und Behörden. Im Rahmen eines solchen Auftrags untersuchte sie die Biodiversität in der Tiefsee der niederländischen Antillen. Beckings Augen beginnen zu leuchten, als sie erzählt, wie sie an Bord eines Mini-U-Bootes auf 200 Meter Tiefe getaucht sei und im Licht der Scheinwerfer zahlreiche seltsame Lebewesen erblickt habe.
Biodiversität vs. Tourismus
Für ein anderes Mandat hat sie vor Kurzem jenen Effekt beleuchtet, den Tauchtouristen auf die Ökosysteme vor der indonesischen Insel West Papua haben. Ihre Analyse soll dereinst Umweltorganisationen, Lokalbehörden und Tourismusbranche gleichermassen behilflich sein, um ein verträgliches Gleichgewicht zu schaffen.
Einerseits darf die Biodiversität nicht zu stark gestört werden. Andererseits soll die arme einheimische Bevölkerung trotzdem finanziell von den ausländischen Taucherinnen und Tauchern profitieren können.
Das Meer ist und bleibt die grosse Passion von Lisa Becking. Mit ihrer vielfältigen Tätigkeit möchte sie diese Liebe weitergeben in der Hoffnung, dass die Menschen mehr Verständnis und ein grösseres Bewusstsein für das grosse Wasser entwickeln: «Wir müssen Sorge tragen, weil wir davon so abhängig sind.»
Elsbeth Gugger, SRF-Niederlandekorrespondentin
Aishe Ghosh, Neu-Delhi: Sie gibt dem Protest ein Gesicht
Jeder Protest hat ein Gesicht. Im Falle der seit bald drei Monaten anhaltenden Proteste in Indien ist dieses Gesicht. Aishe Ghosh oder genauer: der dicke Verband um ihren Kopf.
Ghosh ist sich ihrer Symbolkraft bewusst. Viele Studenten schauen zu ihr auf, und hören ihr genau zu, wenn sie die neuen Bürgergesetze kritisiert.
Dabei war ihr Protest anfangs ein ganz anderer: Seit Monaten wurde in der JNU, wie die Jawaharlal Nehru Universität kurz genannt wird, über Studiengebühren gestritten. Die Regierung will diese erhöhen, Aishe Ghosh und ihre Studentenorganisation wehrten sich dagegen.
Brutal zusammengeschlagen
Das brachte Schläger auf den Plan, die in der Nacht auf den 6. Januar ihre Gruppierung mit Baseball-Schlägern und Eisenstangen heimsuchten. Aishe Ghosh selbst bekam einen heftigen Schlag auf den Kopf.
Noch in derselben Nacht zirkulierte ein Video in den sozialen Medien, in dem die hagere Studentin in die Kamera sagt, dass sie brutal zusammengeschlagen wurde. Im matten Gegenlicht einer Strassenlaterne ist ihr blutüberströmtes Gesicht fast nicht zu erkennen. Nur der Blitz eines Fotografen erhellt es kurz und lässt die Brutalität der Schläge auf ihren Kopf erahnen. 15 Stiche waren nötig, um die Platzwunde auf ihrer Stirn zu schliessen.
Einen Tag danach war Ghosh mit einem dicken, weissen Verband um den Kopf auf allen Fernsehkanälen zu sehen und beschwerte sich ohne Punkt und Komma gegen die Gewalt. Das tut sie auch heute noch, obschon vom Verband mittlerweile nur noch ein altes Pflaster übrig geblieben ist, das Aishe Ghosh gedankenverloren immer wieder neu festdrückt, während sie spricht.
Gewalt zwischen den Religionen
«Es ist die Verantwortung der Jugend, sich aufzulehnen, wenn etwas schief läuft im Lande», sagt sie. Heute geht es der jungen Studentin aus West Bengalen nicht mehr um Studiengebühren, sondern um Gewalt zwischen den Religionen in Indien, die von den Behörden toleriert, ja geschürt werde.
Etwa die Ausschreitungen zwischen Hindus und Muslimen in Neu-Delhi Ende Februar, bei denen über 50 Menschen ums Leben kamen und die Sicherheitskräfte nicht oder zu spät eingriffen.
Aishe Gosh nennt das Beispiel eines 19-jährigen Hindu-Fanatikers, der sich mit einer Waffe vor Protestierende, hauptsächlich muslimische Studenten, stellte und einen Schuss auf sie abfeuerte. Einer der Protestierenden wurde verletzt.
Polizei schaut tatenlos zu
Die Polizei hat tatenlos zugeschaut und erst eingegriffen, als der Schuss schon abgefeuert war. Das war ähnlich wie damals in der JNU: Die Sicherheitskräfte haben nicht eingegriffen, als die Schläger im Campus unterwegs waren.
Für diese Gewaltausbrüche macht Ghosh religiös-nationalistische Kräfte in der Regierung verantwortlich: «Einigen wird gesagt, dass ihre Religion in Gefahr stehe durch die Protestbewegung, und dass sie sich wehren müssten.»
Schlecht ausgebildete Jugendliche ohne Arbeit seien besonders empfänglich für solche Manipulationen. Und davon gebe es mehr als genug, die Jugendarbeitslosigkeit in Indien sei aktuell so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
Nationaler Ruhm
Doch seien es nicht diese Leute, die wegen Aufruhr angeklagt werden, sondern Regierungskritiker, Studienkollegen von Ghosh. Auch gegen Aishe Ghosh selbst wurde eine Klage eingereicht, wegen Vandalismus. Die Anklage bezieht sich auf die Geschehnisse an der JNU am 5. Januar.
Die Attacke auf sie an jenem Tag hat Aishe Ghosh zu nationalem Ruhm verholfen. So sehr, dass sogar Bollywood Star Deepika Padukone und namhafte kritische Politiker bei ihr persönlich vorstellig werden.
Thomas Gutersohn, SRF-Südasienkorrespondent
Zum Schluss noch dies: Diese drei Schweizerinnen haben mit ihrer Kunst dem Feminismus den Weg bereitet:
Sendungen: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 2. bis 6. März 2020 (diverse Uhrzeiten)