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Soziologe Dirk Baier über Gewalt in der Erziehung
Aus DOK vom 14.10.2021.
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Gewalt in der Erziehung «Es gibt Hinweise, dass psychische Gewalt aktuell zunimmt»

Körperliche Gewalt an Kindern werde immer seltener, sagt der Soziologe Dirk Baier. Doch es gebe auch andere Formen von Gewalt. Und auch wer seine Kinder zu sehr verwöhne, könne ihnen schaden.

Dirk Baier

Dirk Baier

Soziologe und Kriminologe

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Dirk Baier leitet das Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Jugend- und Gewaltkriminalität.

SRF: Häufig wird Gewalt gegen Kinder mit altmodischer Erziehung verbunden. Gibt es heute tatsächlich weniger physische Gewalt?

Dirk Baier: Wir sehen zwei grosse Trends im Erziehungsverhalten: Der eine Trend ist hin zu weniger Gewaltverhalten. Es gibt allerdings noch Milieus, in denen es vorkommt.

Gewalt in der Erziehung ist in der Schweiz immer noch nicht verboten. Aber sie wird heute in der Gesellschaft deutlich mehr geächtet.

Der zweite grosse Trend ist, dass Eltern ihren Kindern mehr Liebe und Zuneigung geben. Mit dieser Zuwendung sind auch Nachteile verbunden: Wenn man zu viel Zuwendung gibt und zu wenig Grenzen setzt, sprechen wir vom verwöhnenden Erziehungsstil.

Das verwöhnende Erziehen soll sich ähnlich negativ auf die psychische Entwicklung der Kinder auswirken wie Vernachlässigung. Wie sehen Sie das?

Wir unterscheiden vier Formen von Erziehungsstilen: Die beste Form ist das autoritative Erziehen. Man erzieht liebevoll, setzt aber auch Grenzen und sanktioniert, wenn bestimmte Dinge falsch gemacht werden. Die grosse Mehrheit erzieht ihre Kinder autoritativ.

Dann gibt es die autoritäre Erziehung. Hier dominiert das Kontrollieren, das Einengen des Kindes ohne Emotionalität. Das führt dazu, dass die Kinder ihr Selbstvertrauen verlieren.

Mit zu viel Zuwendung sind auch Nachteile verbunden.

Weiter gibt es den vernachlässigenden Erziehungsstil: Das Kind ist den Eltern gleichgültig, es gibt keine Zuwendung und es werden auch keine Grenzen aufgezeigt. Die negativen Folgen sind sehr ähnlich wie die des letzten, des verwöhnenden Erziehungsstils.

Kinder, die verwöhnend erzogen werden, sind erwiesenermassen weniger frustrationstolerant: Sie reagieren viel schneller impulsiv, wenn sie ihren Willen nicht bekommen. So eine Form von Verwöhnung fördert auch das aggressive Verhalten der Kinder.

Fehlende Grenzen können auch zu Überforderung der Eltern führen. Steigt dann das Risiko, dass sie physische Gewalt anwenden?

Das Hauptmerkmal des verwöhnenden Erziehens ist die hohe emotionale Bindung. Das Risiko, dass es zu physischer Gewaltanwendung kommt, scheint darum geringer.

Eltern müssen nicht allen Ansprüchen gerecht werden.

Aber negative Erziehung hat weitere Folgen als nur die physische Gewalt. Die Eltern sind beispielsweise enttäuscht, wenn das Kind sich den Eltern nicht so nahe fühlt, wie man sich das wünscht. Oder sie setzen Liebesentzug und Ignorieren als Strafe ein. Das sind psychische Gewaltformen.

Ab wann ist etwas psychische Gewalt? Wo verläuft die Grenze?

Für psychische Gewalt müssen aus meiner Sicht drei Dinge zusammenkommen. Zuerst braucht es eine gewisse Form von Absichtlichkeit auf Seiten der Eltern: Die Eltern setzen bewusst Drohungen, Beschimpfung oder Beleidigungen ein, um ein Ziel zu erreichen.

Als Zweites gibt es bei psychischer Gewalt Wiederholung. Zuletzt kommt es darauf an, wie die Bestrafung vom Kind verstanden wird.

Trauriges Kind stützt Kopf in seine Hände
Legende: Was als psychische Gewalt empfunden wird, kann von Kind zu Kind unterschiedlich sein. Getty Images / RapidEye

Psychische Gewaltformen sind schwieriger zu fassen als physische. Sie sind stark vom Kind abhängig und bedeuten für jedes etwas anderes. Es gibt aber Hinweise, dass die psychische Gewalt aktuell zunimmt.

Ist die Tendenz zum Verwöhnen auch eine Folge unseres Wunsches, Kinder möglichst «perfekt» zu erziehen?

Eltern haben einerseits den Anspruch, das Beste für ihr Kind zu wollen. Andererseits möchten sie selbst auch viel vom Leben haben.

Ich glaube, als Elternteil muss man auch lernen, zu verzichten. Man muss nicht allen Ansprüchen gerecht werden. Das führt schnell zu Überforderung.

Die Folge ist nicht unbedingt Gewalt, aber eine dysfunktionale Erziehung. Etwa dass Eltern häufig Medien als Erziehungsmittel einsetzen. Oder dass man zuerst keine Zeit hat, dann das Kind wieder mit Zuwendung überschüttet. Man kauft ihm beispielsweise alles, was es will.

Dieser Konflikt der Ansprüche – ein perfektes Elternteil sein zu wollen, aber auch selbst viel vom Leben haben zu wollen – ist vielleicht das Problem unserer Zeit.

Das Gespräch führte Evelyne Schlauri.

Hilfe für Eltern

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Es gibt verschiedene Anlaufstellen für Eltern, die Hilfe benötigen. Zum Beispiel bietet der Elternnotruf unter der Nummer 0848 35 45 55 rund um die Uhr Beratung an. Auch persönliche Gespräche und E-Mail-Beratungen sind möglich.

SRF 1, DOK, 14.10.2021, 20:10 Uhr ; 

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