Als am 8. Mai 1945 die Waffen endlich schwiegen, war aus dem «Dritten Reich» eine einzige Trümmerwüste geworden. 55 Millionen Menschen waren tot. Sie waren gefallen an den Fronten, wurden ermordet in den Konzentrationslagern, verbrannten in den Bombennächten und starben an Hunger, Kälte und Gewalt auf der Flucht.
In diesem Mai 1945 kam es niemandem in den Sinn, von «Befreiung» zu sprechen. Die gängige Chiffre damals hiess «Zusammenbruch». Die sogenannte «Stunde Null» wurde als Totalabsturz empfunden. Da war nichts mehr, weder materiell noch psychisch. Der Staat mit dem Namen «Deutsches Reich» war ausgelöscht, die vier Besatzungsmächte England, Amerika, Frankreich und Sowjetunion hatten die uneingeschränkte Befehlsgewalt über Territorium und Menschen.
Die «zweite Schuld»
Eben noch hatten sich die Deutschen wie das Herrenvolk aufgespielt, jetzt waren sie entmündigt, bettelarm und hungrig. Die Wirtschaft lief auf Steinzeitniveau, Tauschhandel war angesagt, die Zigarette die wichtigste Währung. Für einen Sack Kartoffeln ging der gesamte Familienschmuck drauf. Zudem lag eine tiefe politische Apathie über dem Land, nach zwölf Jahren Totalitarismus und sechs Jahren Krieg wollte niemand mehr etwas mit Politik am Hut haben. Auch wenn der Magen knurrte, man wollte seine Ruhe haben, sich bloss nicht auseinandersetzen mit der eigenen schrecklichen Vergangenheit.
Das Verdrängen wurde zu einem Baustein der neu entstehenden Bonner Republik, es wurde zur «zweiten Schuld», wie der Schriftsteller Ralph Giordano einmal sagte. Die Psychoanalytiker Margarete und Alexander Mitscherlich nannten diesen Defekt der ersten Nachkriegsgeneration auch «die Unfähigkeit zu trauern».
Die Bestrafung der Schuldigen
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Lange vor dem endgültigen Kriegsende waren sich die Alliierten einig, dass sich die Verantwortlichen der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft vor einem internationalen Gerichtshof würden rechtfertigen müssen. «Verbrechen gegen den Frieden», «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» und andere Tatbestände wurden geltend gemacht, um Morde, Misshandlungen, Deportationen sowie Verfolgung und Vernichtung von Menschenleben zur Anklage zu bringen.
Die Verhandlungen des Internationalen Gerichtshofes begannen am 20. November 1945. Angeklagt waren unter anderem der ehemalige Reichsfeldmarschall Herman Göring, Hitlers Stellvertreter Rudolf Hess, Rüstungsminister Albert Speer aber auch Personen wie Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht. Speer erhielt 20 Jahre, Hess lebenslang, die anderen Angeklagten wurden zum Tode durch den Strang verurteilt. Göring konnte sich dem Strang durch Selbstmord entziehen.
Hoffnung auf die Wiederherstellung der Menschheit
Die Nürnberger Prozesse erlebten international eine übergrosse Aufmerksamkeit. Für den Schriftsteller Alfred Döblin waren sie die Hoffnung auf die Zukunft, die Hoffnung auf die Wiederherstellung der Menschheit.
Vor dem 8. Mai 1945 hatte Deutschland den dramatischsten Versuch in der gesamten Geschichte unternommen, eine unmenschliche Gesellschaft zu schaffen, bilanziert der britische Historiker Ian Kershaw, weltweit einer der profundesten Kenner der Geschichte des Dritten Reiches.
Nur durch den kompletten Untergang hätten die Deutschen endlich mit ihrer Geschichte brechen können, die lange vor Hitlers Ära zurückreicht. Nur so hätten Land und Gesellschaft mit Werten neu aufgebaut werden können, die sich von Hitlers Werten komplett unterscheiden, sagt Kershaw: «Solange Menschlichkeit die gesellschaftliche Grundlage Europas ist, wird sich die Sicht auf Hitler und den Zweiten Weltkrieg nicht ändern.»