Ernst Scheidegger war Anfang der 1940er-Jahre in Maloja im Militärdienst. Einer Wirtin fiel auf, dass der junge Rekrut stets zeichnete. Mit einem simplen Satz veränderte sie die Kunstgeschichte: «Da unten gibt es auch einen, der ständig zeichnet.» Scheidegger suchte den anderen, der ständig zeichnete – und fand: Alberto Giacometti.
Scheidegger begann sich sofort für Giacomettis Werk zu interessieren. Und er fing an, ihn zu fotografieren. Erst nur aus der Distanz. Doch als sich die beiden persönlich näherten, näherte sich auch Scheideggers Kamera dem Sujet. So entstand letztlich auch das berühmte Porträt, das Giacometti auf der 100-Franken-Note zeigte.
Dieses Vorgehen sei typisch gewesen für Scheidegger: Er hätte sich Zeit gelassen. Wollte die Porträtierten erst gut kennenlernen und lichtete sie dann in einem stimmigen Moment ab, so die Kunsthistorikerin Alessa Widmer. «Er war nicht auf das eine, bestimmte Foto aus, sondern er war vielmehr an den Porträtierten selbst interessiert und freundete sich häufig mit ihnen an.»
Wegweisende Zufälle in Paris
Ursprünglich für die Vermarktung des Marshallplans nach Paris geholt, liess sich Scheidegger in Frankreich schnell in den Kreisen der Kunstschaffenden nieder. Hier liess er sich vom Zufall leiten und knüpfte neue Freundschaften. So kam er in Kontakt mit den ganz Grossen: Er fischte mit Dalí, spazierte mit Miró, fachsimpelte mit Germaine Richier.
Scheidegger war für die Kunstschaffenden in erster Linie Verbündeter, Vertrauter, «einer von ihnen». Bei den gemeinsamen Treffen mit den Kunstschaffenden habe er häufig die Kamera gar nicht dabeigehabt, so Alessa Widmer.
Mit präzisem Handwerk
Fast schon nebenbei wurde er so zum Fotografen einer ganzen Generation von Kunstschaffenden. Scheidegger gewann das Vertrauen der Kunstszene auch durch sein Handwerk. «Lichteinfall, Bildkomposition, Verschlusszeit: Scheidegger war ein technisch hervorragender Fotograf.»
Laut Alessa Widmer ein Ergebnis der Ausbildung bei Hans Finsler: Hier war technische Sorgfalt von grösster Bedeutung. Auch wenn Scheidegger die dort gelernte Sachlichkeit bald langweilte: Die technische Versiertheit behielt er bei.
Als freier Reportage-Fotograf bereiste er dann für die legendäre Magnum-Agentur die halbe Welt: traditionelle Feiern in Burma, Sumoringen in Japan, wilde Pferde in Afghanistan. Und dazwischen immer wieder: Giacometti.
Das Gegenteil von Zufall
Dalí sagte einmal zu Scheidegger, er solle doch seine Haare nicht immer so kurz schneiden, er verlöre so ja die ganze Kreativität.
Doch auch wenn er seine Haare bis zu seinem Tod 2016 kurz trug: Seine Kreativität verlor er nie. Diese paarte er mit einem ehrlichen Interesse an den Porträtierten, einem feinen Gespür für die Situation und einer technischer Versiertheit. Seine beachtliche Karriere – alles andere als bloss ein reiner Zufall.