Ein Besuch im zweiten Stock des Kunstmuseums Lausanne gleicht zurzeit einem Tauchgang in eine Unterwasserwelt. Auf sechs Tischen sind grosse künstliche Korallenriffe ausgestellt. Ein ganzer Saal voll farbenprächtiger und fantasievoll überbordender Landschaften.
Die Korallenriffe sind aus farbiger Wolle und glitzernden Fäden gehäkelt. Polypen, Noppen und Stängel wuchern über die Tische und viele gewellte, krause Korallenformen bestimmen das Ausstellungsbild. Sie sehen aus wie farbiger Salat oder Federkohlblätter.
Handwerkskunst trifft Mathematik
Dass die Kunstriffe nicht aus Pappe oder Knete geformt sind, sondern gehäkelt, hat einen besonderen Grund, erklärt eine der beiden Schwestern, Margaret Wertheim: «Viele der rüschenartigen, krausen Formen der Korallen sind nach einer alternativen Geometrie geformt, der sogenannten hyperbolischen Geometrie. Diese unterscheidet sich von der euklidischen Geometrie, die wir in der Schule lernen. Menschen tun sich schwer damit, hyperbolische Modelle zu bauen, aber mit Häkeln geht das.»
Im Häkeln treffen sich also hohe Mathematik und traditionelle Handwerkskunst. Die Häkel-Korallenriffe in Lausanne bestehen aus insgesamt 25’000 Einzelstücken. Gehäkelt haben sie über 4’000 Menschen – hauptsächlich Frauen.
An der Wand sind sie alle namentlich erwähnt. Dem Schwesternpaar geht es mit dieser Häkel-Kunstaktion darum, das oft wenig geschätzte weibliche Handwerk zu würdigen, sagt Christine Wertheim.
In der modernen Welt gebe es die grosse Unterscheidung zwischen Kunst und Handwerk – das sei eine geschlechtsspezifische. Handwerk werde als etwas angesehen, das wertlos ist, weil dem Handwerk kein konzeptueller ästhetischer Wert zugeschrieben wird.
«Normalerweise werden die Handarbeiten von Frauen als ‹Alter-Frauen-Unsinn› abgetan. Deshalb ist es mir wichtig, dass diese Häkel-Arbeiten wertgeschätzt werden für ihre Kreativität. Darum nennen wir alle Namen», so Christine Wertheim.
Korallenschwund – auch in der Kunst
Margaret und Christine Wertheim haben in den vergangenen 20 Jahren gemeinsam mit Freiwilligen über 50 solcher Korallenriffe erschaffen. Sie waren schon in verschiedenen Museen und sogar an der Venedig Biennale zu sehen, aber genau wie die echten Korallenriffe sind auch die grossformatigen Häkel-Riffe nach und nach verschwunden.
Von den über 50 sind gerade noch vier erhalten, drei davon in Deutschland. Es fanden sich keine Käufer, kein Museum, niemand, der die Lagerkosten bezahlen wollte.
«Echte Korallenriffe wie das Great Barrier Reef werden von Milliarden Korallen gemacht, und wir würdigen das nicht und zerstören sie. Häkel-Riffe werden von Tausenden von Menschen gemacht und sie sind uns nicht genug Wert, um sie zu behalten. Wertschätzung ist an individuelle Namen gebunden, vor allem männliche», sagt Margaret Wertheim.
Das Individuelle wird gewertschätzt, das anonyme Kollektiv nicht. Während vier Monaten füllt jetzt das Häkel-Riff in Lausanne eine symbolische Leere. Während draussen die Korallenriffe ausbleichen, erinnern die gehäkelten Korallen daran, dass die Menschheit gerade ein Naturwunder zerstört, das wahrscheinlich für immer zu verschwinden droht.