Ulli Lust sieht sich selbst als Spätzünderin. Die 1967 geborene Künstlerin hat zwar immer gezeichnet. Ihren ersten richtigen Comic sei sie aber erst mit 30 Jahren angegangen. Der Grund? Sie kannte damals noch keine Comics für Erwachsene. Heute gilt die Österreicherin mit dem neugierigen Blick als Meisterin des Genres.
2009 wird Ulli Lust bekannt. Da erscheint ihr Comic «Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens». Das Buch erhält viel Aufmerksamkeit und noch mehr Preise. Der autobiografische Comic ist ein Roman über die Freiheit – und listet auf, was die für junge Frauen kostet.
Frauen als Freiwild
Ulli Lust erzählt mit ihrem charakteristischen Strich von zwei Punk-Mädchen, die nach Italien abhauen. Ein wichtiges Thema: die alltäglichen sexuellen Übergriffe, denen sie ausgesetzt sind.
Das autobiografische Erzählen kennzeichnet Ulli Lusts Arbeit. Wer ihre Bücher liest, hat zwangsläufig das Gefühl, sie gut zu kennen. Es sei aber eigentlich gar nicht ihr Plan gewesen, von sich zu erzählen, so die Künstlerin. Ihr Leben schreibe bloss sehr gute Geschichten.
Die stecken auch in ihrem Comic «Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein» (2017). Darin erzählt Ulli Lust von ihrem Leben als junge Mutter. Am Wochenende besucht sie ihren Sohn, der auf dem Land bei ihren Eltern aufwächst, unter der Woche lebt sie in Wien eine Dreiecksbeziehung, unter anderem mit einem gewalttätigen Mann. Der Comic erzählt von Macht, Gewalt und weiblicher Lust. Nicht nur, aber auch mit den Sexzeichnungen brilliert Ulli Lust.
Bilder für die weibliche Lust
Deutlich wird: Die Künstlerin liebt das Experimentieren. Mit ihren Comics erobert sie sich Stück für Stück neue Gebiete, ergründet die weibliche Lust zeichnerisch so genau wie die Ohnmacht. Neues Terrain ist auch ihr eben erschienenes Buch «Die Frau als Mensch», ein Sachbuch über die menschliche Evolution aus feministischer Perspektive.
In dem Band wimmelt es von Menschenaffen, Neandertalern, Früh- und Jetztmenschen. Die Leserinnen und Leser tauchen tief ein in die Steinzeit, ihre viele Rätsel und unser kümmerliches Wissen darüber.
Aufräumen mit Mythen
Dass die Männer der Frühzeit jagten und die Frauen Wurzeln und Pilze sammelten, ist nur einer der Mythen, mit denen Ulli Lust aufräumt. Und es gibt da offensichtlich noch einiges zu tun: Band zwei ist bereits angekündigt und soll 2026 erscheinen.
Im Interview erklärt Ulli Lust, wie viel die menschliche Vergangenheit mit unserer Gegenwart zu tun hat: «Jetzt wird ja wieder so getan, als wäre das aggressive Alpha-Männchen der Gewinner der Evolution, als siege die Aggression. Tatsächlich aber war es in unserer Geschichte so, dass sich die freundlichen Männer fortgepflanzt haben.»
Der Zusammenhang von früher und heute
Das lässt das aktuelle Gehabe einiger Alpha-Männchen auf der politischen Bühne in einem etwas anderen Licht erscheinen. «Das Wissen um die Menschheitsgeschichte relativiert vieles», so die Künstlerin.
Das sei einer der Gründe, warum sie sich für Geschichte schon immer interessiert habe, sagt Ulli Lust: «Ich hätte auch Archäologie studieren können, aber ich fand Kunst dann doch spannender.» Rückblickend lässt sich sagen: Zum Glück für Leserinnen und Leser.