«Ich hasse Picasso!», schimpft die australische Comedian Hannah Gadsby auf der Bühne. «Obwohl man das nicht darf. Ich hasse Picasso, obwohl das nicht geht. Kubismus!» Der Ausschnitt aus Gadsbys international gefeiertem Programm «Nanette» bringt das Dilemma auf den Punkt.
Der spanische Maler ist wohl der berühmteste Künstler der Welt, seine Bilder gelten als Meisterwerke und erzielen auf dem Markt nach wie vor Höchstpreise. Jedes Kind kennt seinen Namen. Doch das Genie war – gelinde ausgedrückt – ein Scheisskerl.
Picasso liebte Frauen, benutzte und erniedrigte sie. Er war zwei Mal verheiratet und hatte zahlreiche Liebschaften. Er betrog seine Partnerinnen nicht nur systematisch, sondern misshandelte, ja, zerstörte sie.
Maler und Macho
Zwei seiner Partnerinnen brachten sich um, zwei wurden wahnsinnig, fast alle wurden vom Künstler gebrochen. Aus der Perspektive der MeToo-Bewegung gehört Picasso gecancelt, wie andere berühmte Männer, die Frauen missbrauchten und Gewalt gegen sie ausübten.
Doch bei Picasso ist das nicht passiert. Vermutlich, weil er schon lange tot ist; und weil seine Werke als Meilensteine der Kunstgeschichte gelten. Ohne Picasso kein Kubismus und keine zeitgenössische Kunst, so die Kurzvariante.
Die Kunst befreit
Picasso splitterte in der Nachfolge von Cézanne die Figuren und Gegenstände seiner Bilder auf. Gesichter oder Gitarren sind gleichzeitig in diversen Perspektiven zu sehen; etwa von vorne, von der Seite und in der Dreiviertel-Ansicht. Das hat die Kunst befreit. Und es bleibt nicht die einzige Meisterleistung Picassos.
Das grosse Wandbild «Guernica» (1937) formuliert eine bis heute gültige Kritik am Krieg und zeigt die Folgen eines faschistischen Luftangriffs im spanischen Bürgerkrieg. Die Opferzahlen des Angriffs auf die baskische Stadt Gernika sind bis heute umstritten, klar ist aber: Es ging bei dem Bombardement um eine möglichst grosse Zahl ziviler Opfer.
Der erste Superstar der Kunst
Picassos Bild fand für das Leid eine gültige Formel, es berührt heute noch und liefert auch immer noch Stoff für Forschung. «Guernica» machte Picasso zum allerersten Superstar der Kunst. Erst Andy Warhol wurde später ähnlich populär mit seinen Suppendosen und Marylin-Monroe-Porträts.
Die Debatte wird kommen.
Picassos künstlerische Leistungen lassen sich also nicht canceln. Das weiss Comedian Hannah Gadsby: Sie ist gelernte Kunsthistorikerin. Das Problem mit Picasso, das sie bereits 2018 formulierte, besteht weiter und ist sogar noch drängender geworden. Denn am 8. April jährt sich Picassos Todestag zum 50. Mal. Und in Zeiten von MeToo liefert das Privatleben des Genies Stoff für kritische Fragen.
50 Ausstellungen zum 50. Todestag
Im offiziellen Programm ist davon wenig zu spüren. Unter der Ägide des französischen und spanischen Kulturministeriums werden Veranstaltungen durchgeführt, die Picasso als «universellen und europäischen Künstler würdigen, der die Gründungsprinzipien Europas verkörpert, bestehend aus demokratischen Staaten, Verteidigern der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit». Weltweit wird er in 50 Ausstellungen gefeiert.
In der Schweiz zeigt derzeit nur die Fondation Beyeler eine kleine Schau zum Spätwerk. Die richtig grosse Schweizer Picasso-Ausstellung war schon letztes Jahr am Kunstmuseum Basel zu sehen. Direktor Josef Helfenstein kuratierte eine Schau zu Picasso und dem spanischen Altmeister El Greco. Fast 100‘000 Besucherinnen und Besucher sahen sie.
Publikumserfolg garantiert
«Picasso ist ein sicherer Wert», sagt Ausstellungsmacher Helfenstein. Der bekannte Name ziehe. Und trotzdem gelte es, genau zu arbeiten: «Picasso-Ausstellungen sind teuer, die Versicherungswerte hoch.»
Er schätze an Picasso die künstlerische Vielseitigkeit, so der Basler Museumsdirektor. «Da ist Picasso einzigartig.» Der spanische Maler, der die meiste Zeit seines Lebens in Frankreich verbrachte, kann schlicht alles: realistische Portraits und abstrakte Bilder, einen detailreichen Realismus und ganz auf Linie reduzierte Zeichnungen.
Unzeitgemässe Vielseitigkeit
Heute sind Signature-Styles gefragt, auf dass die Kassen der Auktionshäuser dank der Versteigerung gut erkennbarer Gerhard-Richter- oder David-Hockney-Werke klingeln. Picasso hingegen brillierte in einer Vielzahl von Stilen und erfand sich immer wieder neu.
Der Künstler sei allerdings kein abgehobener Virtuose, betont Josef Helfenstein: «Picasso berührt die Menschen mit seiner Kunst.» Etwa mit den schönen Bildern aus der blauen und rosa Periode, die die Traurigkeit von Säufern, Gauklern und Prostituierten zeigen, von Menschen am Rand der Gesellschaft.
Direktor Helfenstein will aber auch nichts verschweigen: «Was Picasso mit seinen Frauen gemacht hat, ist schrecklich.» Der Kunsthistoriker gibt zu bedenken, in Picassos Bildern spiegle sich beides: die Liebe für die Frauen und die Lust, sie zu zerstören.
Misogyne Malerei
Picasso arbeitete sich ein Künstlerleben lang an seinen Partnerinnen ab: Erst porträtiert er sie über beide Ohren verliebt, dann erlahmt die Liebe und Picasso dekonstruiert die Frau im Bild, zerlegt sie in Formen. Aus der schönen Olga Picasso wird zum Beispiel eine splitternackte Spaghetti-Figur mit spitzigen Zähnen.
Picasso tat seinen Partnerinnen auch in den Bildern, die er von ihnen malte, Gewalt an. Als «Teufelsaustreibung» bezeichnete Florian Illies das Bild «Nu au fauteuil rouge» in seinem Buch «Liebe in Zeiten des Hasses» und vermutete, Picasso versuche, sich die Ehefrau «von der Seele zu malen».
Das ist das eine. Zu erkennen ist darin aber auch der kreative Beginn von Picassos surrealistischer Phase. Die Lage ist also komplex.
Bis man nicht mehr glotzt
Genauso komplex ist Picassos berühmtestes Bild, die «Demoiselles d’Avignon» (1907). Fünf nackte Frauen, kubistisch aufgesplittert, erwidern den Blick der Betrachterinnen und Betrachter. Sie erinnern an Monster oder afrikanische Masken.
Die «Demoiselles» verhandeln nicht nur die Bezüge der Kunst zur Realität neu, sondern auch die Geschichte der Kunst. Denn die halbnackten Objekte auf dem Bild lassen sich nicht wie üblich anglotzen, sondern schauen trotzig zurück. Solange, bis die Betrachter den Blick abwenden.
Picasso selbst bediente sich für das Bild ungeniert bei afrikanischer Kunst. Die begeisterte viele Künstler seiner Generation auf einer oberflächlich formalen Ebene. Picasso kopierte wie viele andere Masken und Statuen, ohne sich für deren ursprünglichen Kontext zu interessieren.
Alles nur geklaut?
Heute wird zwar kritisch über dieser Art der kulturellen Aneignung diskutiert, aber nicht bei Picasso. «Die Debatte wird kommen», ist der Basler Museumsdirektor Josef Helfenstein überzeugt. Bis es so weit ist, hat Cécile Debray das prestigereiche Musée Picasso in Paris bereits darauf vorbereitet.
Die Kunsthistorikerin ist seit Ende 2021 Präsidentin des Hauses, das sich um Picassos Nachruhm kümmert und eine exquisite Sammlung aus dem Nachlass des Künstlers zeigt. Zum Jubiläum liess Debray die Sammlungspräsentation im Musée Picasso aufdatierten.
Designer Paul Smith sorgt für freche und farbige Tapeten. Darauf zu sehen: Picassos Werke und die von internationalen Gegenwartskünstlerinnen und -künstlern – etwa der in Nigeria geborenen Obi Okigbo oder des Kongelesen Chéri Samba –, die Picasso ihrerseits kommentieren und appropriieren.
Willkommene Debatte
Heikle Bestände mit Werken zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler zu kontextualisieren, die in Afrika geboren wurden oder aus marginalisierten indigenen Gesellschaften stammen, ist derzeit für viele Museen die einfachste Lösung, um postkoloniales Bewusstsein zu demonstrieren.
Cécile Debray ist im Lauf ihrer Karriere diversen komplexen Probleme nicht ausgewichen; in einem Artikel der Kunstzeitschrift «Apollo» erklärt die Präsidentin nun, sie heisse die Debatte um Picasso ausdrücklich auch im Musée Picasso willkommen.
Picasso, der Oger
In Frankreich läuft die Debatte seit längerem. Die Journalistin Sophie Chauveau schrieb 2017 mit «Picasso, le minotaure» ein feministisches Porträt des Künstlers und bezeichnete ihn als alles verschlingenden Oger.
Warum ausgerechnet Picasso den ganzen Ruhm für die Erfindung des Kubismus einheimst und die vielen anderen Erfinder wie Juan Gris oder Georges Braque bloss in der zweiten Reihe stehen? Das ist nur eine von vielen kritischen Fragen in diesem Buch.
2021 war Sophie Chauveau Gast in einem preisgekrönten Podcast, der Picassos Misogynie feinsäuberlich auseinandernahm. In «Vénus s’épilait-elle la chatte?» fragt die Kunsthistorikerin Julie Beauzac nach Venus‘ Intimfrisur und betreibt lustvoll feministische Kunstgeschichte.
In der Picasso-Folge geht es nicht zuletzt um unsere Verantwortung. Ist es okay, Picasso nach wie vor als Genie zu bewundern und seine Werke, zum Beispiel «La femme qui pleure» als universellen Ausdruck von Trauer zu betrachten?
Schliesslich ist bekannt, dass Picasso seine damalige Partnerin, die Künstlerin Dora Maar, erst verprügelte und dann obsessiv in mehreren Bildern mit dem immer gleichen Taschentuch in der Hand porträtierte.
Erfolgreiche Fotografin
Dora Maar lernte Picasso 1936 kennen. Sie befand sich mit noch nicht 30 Jahren auf dem Höhepunkt ihrer Karriere als surrealistische Fotografin. Er war 26 Jahre älter als sie und steckte in einer Schaffenskrise. Picasso war noch mit seiner ersten Frau Olga verheiratet, die Affäre mit seiner Geliebten Marie-Thérèse Walter steckte in einer Sackgasse.
Dora Maar faszinierte Picasso. Die überzeugte Kommunistin soll ihm täglich aus der Zeitung vorgelesen und den unpolitischen Künstler erst zu «Guernica» überredet haben. Ironischerweise wurde Picasso ausgerechnet durch dieses Werk zum einflussreichen politischen Künstler.
Wie umgehen mit Picasso?
Eine der wirksamen zeitgenössischen Strategien ist, mehr über die Frauen in Picassos Leben zu forschen und zu erzählen. Sie gehören aus dem puren Musendasein erlöst, ihre Begabungen und Karrieren sollten ebenfalls Thema sein. Auch Dora Maars Geschichte ist mehr als die eines Opfers.
Die Journalistin Rose-Maria Gropp hat für ihr neues Buch «Göttinnen und Fussabstreifer» zu den Frauen und Picasso geforscht. Sie schätzt Picassos Kunst und findet dennoch einen Weg für eine kritische Auseinandersetzung.
Gropp erzählt die Leben von Picassos Frauen. «Ich habe mich nicht auf, aber an ihre Seite gestellt», sagt die deutsche Journalistin. Und so ist in ihrem Buch viel Interessantes zu lesen. Etwa, was diese Frauen vor ihrer Beziehung zu Picasso machten und was danach.
Deutlich wird, dass Picasso sich selbst wohl stets als Sonne darstellte, mit diversen Planeten, die nur um ihn kreisten. Tatsächlich aber bewegte er sich wie seine Partnerinnen in einem dichten Geflecht von Kreativen und Intellektuellen.
Gopps Buch ist eine kritische Kontextualisierung des Künstlers Picasso, die das einsame Genie wirksam vom Sockel holt und auf den Boden der Tatsachen stellt.
Leben und Werk gehören zusammen
Man kann also neue Narrative pflegen und die Geschichten von Picassos Frauen erzählen. Der übliche Weg für den Umgang mit heiklen Künstlern ist versperrt. Soll Kunst von Künstlern, deren Privatleben heute Fragen aufwirft, weiter rezipiert werden können, wird oft versucht, das Werk vom Leben zu trennen.
Bei Picasso versagt diese Strategie. Leben und Werk lassen sich nicht trennen. Picasso hat den Zusammenhang stets betont und gesagt, er male, um sein Inneres nach aussen zu kehren.
Biografische Lesart
Auch wichtige Förderer und Interpreten Picassos, etwa MoMA-Direktor Alfred J. Barr und Picasso-Biograf John Richardson bekräftigten, wie eng Picassos Kreativität mit seinem Leben und seinen Frauen zusammenhänge. Sie fanden dafür die einfache Formel: neue Frau = neuer Stil.
Die biografische Lesart dominiert nach wie vor: bei der Picasso-Forschung, den Picasso-Fans und auch den Kritikerinnen und Kritikern. Denn mit der MeToo-Bewegung ist klar: Gerade weil Picassos toxische Beziehungen zu Frauen auch den Stoff für seine Bilder liefern, wird er kritisch hinterfragt.
Wer lacht zuletzt?
Fazit? Die Debatte hat Fahrt aufgenommen. Und: Das Dilemma um Picasso muss ausgehalten werden. Eine Lösung ist nämlich nicht in Sicht.
Der Künstler beschäftigt auch Comedian Hannah Gadsby weiter. Nachdem sie mit «Nanette» und dem Picasso-Bashing ihren internationalen Durchbruch feierte, wird sie diesen Sommer im Brooklyn Museum in New York eine Ausstellung zu Picasso kuratieren.
Man darf gespannt sein, wer dieses Mal zuletzt lacht.