Es gibt keine primitive Kunst: Zu dieser Erkenntnis kam Jean Dubuffet auf einer Reise, die ihn durch die Schweiz führte. Eine wichtige Station war Genf – ein Besuch im Ethnografischen Museum im Jahr 1945.
Da sieht er eine Maske der «Tschäggätä» aus dem Lötschental. Ein wichtiger Moment für Dubuffet, sagt Baptiste Brun, Kurator der Ausstellung «Dubuffet, un barbare en Europe». Der französische Künstler sei von den Masken aus dem Lötschental fasziniert gewesen. «Denn wenn ein Walliser ein Wilder ist, was sind dann Kongolesen oder Menschen aus Papua-Neuguinea? Alle seien ein bisschen Wilde bei Dubuffet», so Brun.
Was sind Wilde?
Diese Schweizer Reise zeichnet die Ausstellung im Musée d'ethnographie de la Ville de Genève nach. Mit ihm waren der Architekt Le Corbusier und der Schriftsteller Jean Paulhan unterwegs.
Kunst der «Verrückten»
Eine wichtige Station war für Dubuffet auch der Besuch bei Charles Ladame, einem Psychiater, der in der Klinik Bel-Air eine Ausstellung von Patienten organisiert hatte, eine «petite musée de la folie». Auch in der Klinik Waldau bei Bern machte Dubuffet einen Halt, wo der Arzt Walter Morgenthaler in Adolf Wölfli nicht nur einen nervenkranken Patienten sah, sondern einen Künstler.
Nur ein Jahr nach dieser Reise prägt Jean Dubuffet den Begriff «Art brut». Die Reise in die Schweiz sei in verschiedener Hinsicht entscheidend gewesen, sagt Baptiste Brun. Auch, weil Dubuffet hier Menschen getroffen habe, die für sein künftiges Schaffen wichtig waren. Man solle die Reise nach Genf aber auch nicht verklären, sagt Brun. Dubuffet tauschte sich mit Menschen in ganz Europa aus.
Reise zur «Art brut»
Die Reise lässt sich gut nachvollziehen, da Dubuffet ein umfangreiches Archiv über seine Beobachtungen führte und Fotos der Werke anfertigen liess, die er in Genfer Ethnografischen Museum gesehen hatte. So können die Besuchenden auch heute im Museum dieselben Objekte anschauen, die Dubuffet damals betrachtet hatte – mit dessen Notizen an der Wand.
Kurator Baptiste Brun kann die Bedeutung des Begriffs «Art brut» nicht in einen Satz fassen. Er halte sich immer an Dubuffet und sage, das seien Werke, deren Autoren frei von einer künstlerischen Kultur seien. Ein weiterer Satz von Dubuffet lautet: «Das sind Künstler, die keine Künstler sind. Aber von denen Dritte sagen: Das sind Künstler.»
Es bleibt also kompliziert. Für Sarah Lombardi, Direktorin der Collection de l'Art Brut in Lausanne, bezeichne die Art brut ein Kunstwerk, das in völliger Freiheit realisiert wurde. Ohne jegliche Zwänge oder Einschränkungen und vor allem für sich selbst und zum eigenen Vergnügen gemacht.
Es gibt noch viel zu entdecken
Zwei Definitionen von zwei verschiedenen Experten der Art brut. Das zeigt, wie vieles es rund um Dubuffet bis heute zu entdecken gibt.
Die Ausstellung zeigt, dass die Antwort eng mit Jean Dubuffet selbst zu tun hat. Dass er sich seiner Bedeutung für die Nachwelt bewusst war und deshalb eine so detailgetreue Dokumentation hinterliess. So endet die komplexe Ausstellung denn auch mit einem Dubuffet-Zitat. «L'art brut, c'est l'art brut et tout-le-monde a très bien compris.»