Ganz schön viel Druck: Für die Fassade des Bundeshauses wird 2021 per Wettbewerb zeitgenössische Kunst gesucht, um ein staatstragendes Ereignis zu feiern: die Geburt der modernen Schweiz 1848.
Das Kunstwerk zur Feier soll viele Erwartungen erfüllen: Es soll alle Einwohner der Schweiz ansprechen, das politische Machtzentrum und die Regierungsform der Schweiz klug reflektieren, nicht nur hübsche Dekoration sein und bitte auch angemessen respektvoll mit den Traditionen des Bundeshauses umgehen. Das kann man eigentlich nur falsch machen.
«Ich habe keine Angst vor Grösse»
Die Künstlerin Renée Levi hat die Herausforderung dennoch angenommen. «Ist doch toll!», sagt sie in ihrem Basler Atelier. Bilder lehnen an der Wand, verwischte Farben sind zu sehen. In Feldern nebeneinander und in gesprayten Kringel.
Die abstrakten Bilder von Renée Levi sind stark und können ganze Räume verändern. Die ausgebildete Architektin kann mit Hallen, Museumsräumen und Fassaden umgehen. «Ich habe keine Angst vor Grösse», sagt die Künstlerin dazu.
Ein Kraftakt: Kunst fürs Bundeshaus
Auch das Kunstwerk, das sie mit ihrem Lebens- und Arbeitspartner Marcel Schmid fürs Bundeshaus entwickelt hat, ist gross. Und auf gewisse Weise furchtlos.
Während andere Künstlerinnen und Künstler lieber gar nicht erst am Wettbewerb teilnahmen, haben die beiden ihn mit einem Mosaik gewonnen: Es besteht aus grün schimmernden Kacheln. 246 sind es, um genau zu sein. Gleich viele Sitze hat das Schweizer Parlament.
Die Kacheln des Mosaiks, das am 12. September enthüllt wird, nehmen den grüngrauen Sandstein des Bundeshauses auf. Auch die Struktur des Mosaiks ist abgeleitet aus der Fassade.
Aber anstatt die allegorischen Frauenfiguren, Fahnen und Greifen fortzusetzen, kommt neu Belebung ins Giebelfeld: Eine gerillte Struktur, die glänzt und schimmert, und aus unterschiedlichen Winkeln unterschiedlich aussieht.
Als das Bundeshaus entstand, wuchsen in New York Wolkenkratzer
Begonnen hat die künstlerische Arbeit für das Mosaik buchstäblich vor dem Bundeshaus. Renée Levi und Marcel Schmid stellten sich auf den Bundesplatz und betrachteten das Bundeshaus.
Dabei fiel dem Künstlerduo mit der Affinität für Architektur die visuelle Sprache des Baus auf: Das Bundeshaus wirkte bereits bei seiner Fertigstellung 1902 altertümlich. Man hätte damals anders bauen können, wollte das aber nicht.
Ende des 19. Jahrhunderts entstanden in Chicago die ersten Wolkenkratzer, 1894 wurde die 100-Meter-Marke geknackt. Zur Vergegenwärtigung: Während 1902 in Bern das Bundeshaus fertig gebaut wird, entsteht in Manhattan das «Flatiron Building».
Das heisst: Der architektonische Historismus ist in Bern nicht einfach passiert, es hätte andere Optionen gegeben. Ein starkes Signal für Renée Levi und Marcel Schmid, den Bau ernst zu nehmen und zu reflektieren.
Für die Frau(en)
Aufgefallen sind den beiden neben dem Bau selbst, neben den Geometrien und Achsen der Fassade auch die Jahreszahlen unter den allegorischen Frauenfiguren für Freiheit und Frieden: 1291 und 1848. «Und dann gibt es eine Jahreszahl, die fehlt: 1971», sagt Renée Levi.
1971 war das Jahr, in dem die Schweizerinnen erstmals wählen und abstimmen durften. Das Kunstwerk erinnert auch an die zwölf Frauen, die im Herbst 1971 als erste Parlamentarierinnen ins Bundeshaus gewählt wurden.
«Ursprünglich wollten wir das Mosaik ‹Elisabeth, Gabrielle, Hanna, Hanny, Hedi, Martha, Liselotte, Josi, Nelly, Lilian, Lise und Tilo› nennen», sagt Marcel Schmid. Später verkürzten die Künstler den Titel zu «Tilo» und erinnern damit explizit an Tilo Frey.
Die Politikerin aus Neuenburg war die erste Nationalrätin of Color (Person mit nicht weisser Hautfarbe) im Schweizer Parlament. Für Renée Levi und Marcel Schmid wurde Tilo Frey zentral, weil sie als Pionierin nach wie vor wenig bekannt ist, auch wenn 2019 ein Platz in Neuenburg nach ihr benannt wurde.
Diversität, als das noch kein Thema war
Gesellschaftlich erinnert werden, wenn es um 1971 geht, vor allem die weissen Polit-Pionierinnen. Und so vertritt Tilo Frey im Titel des Kunstwerks nicht nur die ersten Schweizer Parlamentarierinnen, sondern auch gesellschaftliche Minderheiten. Denn als erste schwarze Nationalrätin brachte Tilo Frey ein Stück Diversität ins Bundeshaus – lange bevor das Schlagwort aktuell war.
Diese gesellschaftspolitischen Zusammenhänge soll das Mosaik Tilo visualisieren: schillernd mit 246 Kacheln bringt es buchstäblich Vielheit an die Fassade des Bundeshauses.
Hunderte Kacheln finden sich zu einem Ganzen zusammen, das je nach Perspektive unterschiedlich schillert. Und: Wer diese Vielheit erfahren will, muss sich bewegen – bekanntlich nicht die schlechteste Voraussetzung, um Diversität zu leben.
Inklusion und Veränderung
Thema wird auch die Möglichkeit zur gesellschaftlichen und politischen Veränderung. Denn die Schweizer Demokratie, für deren Feier ein Kunstwerk in Auftrag gegeben wird, ist unperfekt.
Es geht mit «Tilo» auch darum, klarzumachen: Da warten nach den Frauen noch andere auf Inklusion, zum Beispiel Ausländerinnen und Ausländer.
Kunst und ihre Bedeutungen
Die neue zeitgenössische Kunst am Bundeshaus verhandelt wie die allegorischen Statuen an der Fassade die grossen Themen: Frieden, Freiheit oder den Umgang mit Minderheiten in der Demokratie, in der schlussendlich immer die Mehrheit bestimmt.
Grosse und komplexe Themen werden durch «Tilo» visualisiert. Nicht nur für die Schulklassen, die vor dem Bundeshaus stehen und die Fassade studieren. «Mir gefällt die Vorstellung, dass da herüberkommt: Was heisst Demokratie und wer kommt rein in unsere Demokratie?», sagt Renée Levi.
Viele Lesarten
Das dreieckige Mosaik aus vielen schimmernden Dreiecken kann als Symbol für «Diversity» am Symbolbau der Schweizer Demokratie verstanden werden. Kann, muss aber nicht.
«Das Ding soll so einfach sein, dass es auch einfach schön ist. Man soll auch Freude daran haben können», sagt Marcel Schmid.
Renée Levy und Marcel Schmid haben ein Kunstwerk fürs Bundeshaus geschaffen, das den Ort als Haus der Schweizer Demokratie ernst nimmt, ihn reflektiert, und erst durch uns, die Betrachterinnen und Betrachter draussen auf dem Platz, zu einer Bedeutung findet.