Fast 12’000 Menschen haben seit November 2017 Mia Merrills Online-Petition unterzeichnet. Sie fordern damit das Metropolitan Museum in New York auf, Balthus’ Gemälde «Thérèse rêvant» (1938) abzuhängen oder besser zu kontextualisieren. Denn die träumende Thérèse hält ihre Augen fest verschlossen und ihre Beine weit gespreizt.
Solche Darstellungen machten Kinder zu Sexobjekten und propagierten Voyeurismus – so die Argumentation der Kritiker im Umfeld der #MeToo-Debatte. Die Petition sagt im Grunde: Bilder seien nicht unschuldig und trügen zu einem gesellschaftlichen Klima bei, das sexuelle Übergriffe toleriert.
Sich ein eigenes Bild machen?
Das Met hielt dagegen. Das Museum zitierte die Freiheit der Kunst, hängte das Bild nicht ab und ergänzte auch nicht das Täfelchen unter dem Bild.
Derzeit ist «Thérèse rêvant» in der «Balthus»-Ausstellung der Fondation Beyeler in Riehen zu sehen, neben 39 weiteren Werken. Darunter sind Portraits, Landschaften, Strassenszenen, Intérieurs, aber eben auch viele Bildnisse sehr junger, sehr nackter und sehr erotisch inszenierter Mädchen.
Es gehe nicht darum, Balthus mit einer Ausstellung zu verteidigen, so Kurator Raphaël Bouvier. Die Besucherinnen und Besucher sollen den Künstler entdecken können und sich ihr eigenes Bild machen. Ganz so einfach ist das aber nicht mit dem eigenen Bild.
Die Bilder werden als Meisterwerke inszeniert
Die Fondation zeigt Balthus’ Bilder nämlich wie Kronjuwelen. Luftig gehängt, vor intensiv farbigen Hintergründen. Die Macht der Inszenierung unterstützt Balthus’ rätselhafte Kompositionen und Porträts und macht sie als Meisterwerke geradezu unangreifbar.
In den Saaltexten ist etwas gestelzt die Rede davon, dass gewisse von Balthus’ Bildern «unterschiedliche Lesarten zulassen». Das ist nichts für Freunde klarer Worte. Kurator Raphaël Bouvier hält auf Rückfrage fest, man habe sich bewusst gegen explizite Warnhinweise in den Sälen mit den Mädchenbildern entschieden, um eben nicht eine Wahrnehmungsweise vorzugeben.
Unterschiedliche Lesarten
Tatsächlich ist das intensiv diskutierte Bildnis der Thérèse nicht eindeutig. Man kann darin durchaus eine sehr selbstbewusste, junge Frau entdecken, die mit der Macht ihrer Sexualität spielt und gerade durch diesen Tabubruch Betrachter provoziert.
Andererseits: Thérèse Blanchard hat nicht selbst entschieden, sich so zu präsentieren. Balthus inszenierte sie so und er nutzte die Skandale, die seine Bilder erzeugten, karrierefördernd.
Die Debatte wird bei Beyeler nicht explizit thematisiert
Die Diskussion um «Thérèse rèvant» ist längst nicht ausgefochten. Zum Glück sind Balthus’ Bilder jetzt also zu sehen. Die Fondation nimmt ausserdem die Debatte auf: Es gibt Kunstvermittler in den Sälen, die «Ask Me»-Buttons tragen, Kommentarwände, Führungen, ein Roundtable-Gespräch und vieles mehr.
Dass aber Saaltexte und Audioguides die Debatte nicht explizit thematisieren, ist problematisch. Denn das sind die Medien, die Besucherinnen und Besucher bevorzugt nutzen. Und seit wann verunmöglicht Kontextwissen die Bildung einer eigenen Meinung?