Thomas Hirschhorn ist ein Fan. Ein bekennender. «Ich liebe sie!», schrieb der Schweizer Künstler in einem Brief über Meret Oppenheim. Der Liebesbrief entstand für den Katalog der Ausstellung «Merets Funken» 2012 im Kunstmuseum Bern.
So leidenschaftlich wie es die Gesetze des Genres verlangen, ist diese Liebeserklärung an die 1985 verstorbene Künstlerin, aber Thomas Hirschhorn begründet auch, warum er Meret Oppenheim und ihr Werk liebt. Nämlich weil sie widerständig ist und «weil in ihrer Arbeit Form gegeben wird, worum es geht in der Kunst: frei zu sein mit dem Eigenen.»
Künstlerin ohne Kompromisse
Frei übersetzt heisst das: Meret Oppenheim, die am 6. Oktober dieses Jahres 100 Jahre alt geworden wäre, hat ihre eigene Sprache gesucht und ist sich treu geblieben, ohne Kompromisse zu schliessen, ohne sich korrumpieren zu lassen.
Dafür liess sie auch Federn, und wurde lange Zeit ignoriert, sagt die Kuratorin Kathleen Bühler, die 2012 die Berner Ausstellung erarbeitet hat. Sie zeigte Meret Oppenheims Arbeiten gemeinsam mit den Werken zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler, warf also durch die Brille der zeitgenössischen Kunst einen Blick auf Meret Oppenheim und entdeckte eine unheimlich gegenwärtige Künstlerin, deren Werk vielgestaltig ist, quicklebendig und nicht einzuordnen.
Retrospektive ohne «die Alte»
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Während das Kunstmuseum Bern bereits 2006 eine Meret-Oppenheim-Retrospektive auf die Beine stellte und 2012 «Merets Funken» nachschob, ist nun im Jubiläumsjahr eine grosse Ausstellung über Oppenheims Werk nur in den Nachbarländern der Schweiz zu sehen.
Die Schau, die erst in Wien zu sehen war und nun in Berlin gezeigt wird, bietet mit rund 200 Werken einen guten Überblick über Meret Oppenheims Werk. Und das liegt nicht zuletzt daran, dass die Ausstellung, die Heike Eipeldauer kuratiert hat, ohne das berühmteste Werk von Meret Oppenheim auskommt.
Nicht zu sehen ist nämlich die Pelztasse, dieses Schlüsselwerk der Moderne und des Surrealismus mit dem Titel «Le Déjeuner en fourrure», das Oppenheim später selbst nur noch als «die Alte» bezeichnete.
Jahrelang stand dieses eine Werk, das Meret Oppenheim 1936 im Umkreis der Surrealisten in Paris schuf, vor der Wahrnehmung ihres restlichen Schaffens. Die Berliner Retrospektive legt den Fokus auf dieses restliche Schaffen und zeigt eine schier überwältigende Menge an Formen und Themen, die die Künstlerin bearbeitet hat. Zeichnungen, Objekte, Plastiken, Modeentwürfe, Bilder, Texte schuf sie bis zu ihrem Tod 1985.
Einheit in der Vielfalt
Deutlich wird in dieser Vielfalt, dass sich Meret Oppenheim immer wieder mit ähnlichen Themen auseinandergesetzt hat, mit Dingen, die man nicht darstellen kann zum Beispiel, mit weiblichen Rollen, mit Sprache und Dichtung, mit Natur und mit Verwandlungen. Die «Maske mit Bäh-Zunge» etwa ist nur ein Beispiel für die vielen Metamorphosen, die Meret Oppenheims Werk prägen.
So spielerisch, so humorvoll dieses Werk ist, Meret Oppenheim war keine Komödiantin, sondern suchte mit ihrer Kunst auch ganz ernsthaft Erkenntnis. Sie kritisierte mit ihren humorvollen oder rätselhaften Werken wohl die Ratio als alleinseligmachendes Mittel auf dem Weg zur Erkenntnis, wollte mit ihrer Kunst aber die Welt verstehen, sagt Bice Curiger, die sich jahrelang mit ihr auseinandergesetzt hat und 1982 die erste Monografie über Meret Oppenheim schrieb.
Zu erkennen ist dieses Erkenntnis-Interesse etwa in der frühen Zeichnung «Einer, der zusieht, wie ein anderer stirbt» von 1933. Diese erfasst mit traumwandlerischer Sicherheit einen riesigen Themen-Komplex: Voyeurismus, Einsamkeit, das Trauma des Todes, die Gleichgültigkeit der Natur gegenüber Werden und Vergehen, das alles steckt in den einfachen Strichen der Zeichnung.
Dichte, Einfachheit und Witz
Ein anderes Beispiel gefällig? Ein Selbstportrait von 1964 zeigt eine Röntgenaufnahme von Meret Oppenheims Schädel. Dunkel zeichnen sich die Knochen ab. Von der Person Meret Oppenheim ist leider gar nichts zu sehen.
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Und so ist diese Röntgenaufnahme ein Selbstportrait, das lässig versteckt, was es zu zeigen vorgibt. Diese akkurate Dichte und kluge Einfachheit gepaart mit Witz, das soll Meret Oppenheim erst mal einer nachmachen.