San Francisco hält sich gern für die toleranteste Stadt der Welt. Hier nahm die Hippiebewegung ihren Ausgang, hier wagten es Homosexuelle erstmals, öffentlich zu ihrer sexuellen Orientierung zu stehen.
Die Stadt sei von einer ständigen Erweiterung der Freiheiten geprägt, sagt der Soziologe Peter Richardson von der San Francisco State University. Entsprechend zieht die Stadt auch die Menschen an, die diese Freiheiten ausleben wollen.
Bitterer Streit
Aber jetzt ist in der Stadt ein bitterer Streit entbrannt. Es geht um Toleranz versus politische Korrektheit, um die Bewahrung von Kunst versus die politische Zensur von Bildern.
Nachdem im ganzen Land Statuen niedergerissen wurden, die das Andenken der konföderierten Südstaaten hochhielten, werden auch andere öffentliche Kunstwerke ideologisch unter die Lupe genommen.
Sklavenhalter und Eroberer
In San Francisco traf es nun Victor Arnautoff, ein linker Künstler, der im Jahr 1936 mit öffentlichen Geldern eine Serie von 13 Wandgemälden an der George-Washington-Schule schuf.
Zwei davon rüttelten am Bild des Nationalheiligen George Washington. Sie zeigten ihn als Sklavenhalter und Eroberer, der beim Zug gen Westen über die Leichen der amerikanischen Ureinwohner ging.
Diese Darstellung der Unterdrückung ist heute der Stein des Anstosses. Die Bilder könnten Kinder mit afroamerikanischem oder indianischem Hintergrund traumatisieren, heisst es.
Rassistische Kunst?
Robert Cherny, Historiker und Experte für die in der Zeit der Depression geschaffene Kunst, versteht das nicht. Eine seiner Veranstaltungen, bei der er den Hintergrund von Arnautoffs Fresken erläutern wollte, wurde von brüllenden Aktivisten gestört, die gegen die vermeintlich rassistische Kunst protestierten.
Ein absurder Vorwurf, findet Cherny. «Die Absicht des Künstlers war es, die Sklaverei und den Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern zu kritisieren», sagt Cherny. «Aber diejenigen, die diese Bilder nun zerstören wollen, sagen, dass die Absichten des Künstlers unwichtig seien.»
Erzkonservative unter Polizeischutz
In San Franciscos Politik gibt es praktisch keine Konservativen mehr. Bei Wahlen treten oft, wegen des seltsamen kalifornischen Vorwahlsystems, nur Kandidaten der Demokratischen Partei gegeneinander an.
Viele Aktivisten haben keine Toleranz mehr für alles, was sich ausserhalb ihres engen ideologischen Horizonts abspielt. Erzkonservative Intellektuelle, die sich an die Universität Berkeley wagen, können oft nur noch unter Polizeischutz reden.
Was soll die Kunst?
Die linke Öffentlichkeit spaltet sich nun an der Frage der Arnautoff-Gemälde: auf der einen Seite die eher traditionellen Linken, für die Kunst provozieren soll, auf der andern die Identitätspolitiker, die Kunst nach dem Kästchenschema ihrer politischen Weltsicht beurteilen.
Die Schulbehörde reagierte auf die Proteste mit einem Kompromiss: Mit vier gegen drei Stimmen beschloss sie am Dienstag, die Fresken mit Paneelen zu verdecken. Darauf sollen Bilder gemalt werden, die «inspirierend» auf die jungen Menschen wirken. Für den Soziologen Peter Richardson ein Rezept für eine einlullende, weichgespülte Kunst – also überhaupt keine Kunst.