Samuel Herzog: Künstlerinnen raufen sich heute gerne zusammen, um als Kollektiv Projekte zu realisieren. Welche Vorteile hat die Zusammenarbeit?
Vera Leisibach: Man dreht sich so weniger im eigenen Saft. Allerdings muss man auch offen sein für die Inputs anderer. Zusammenarbeit ist immer voller Überraschungen.
Chris Regn: Gerade weil die einzelne Position im Kollektiv nicht so ehrgeizig und verbohrt sein kann, wird neuen Gedanken Platz gegeben, kann die Diskussion im Raum geführt werden. Es ist indes neu, dass Zusammenarbeit auch als eine Form künstlerischer Arbeit akzeptiert wird, an Hochschulen etwa – das war früher nicht so. Das Kollektive befragt die Bewertung.
Was meinen Sie mit Bewertung?
Vera Leisibach: Die Note. An der Hochschule Luzern, Design & Kunst im Master Kunst etwa können die Studierenden wählen, ob sie bei der Jurierung eines kollektiven Projektes einzeln oder als Gruppe benotet werden wollen.
Chris Regn: Das Kollektiv befragt aber auch unseren eigenen Blick auf Arbeiten – sowohl unseren Blick als Künstler wie auch als Rezipienten.
Der Auftritt als Gruppe ist oft schwierig.
Vera Leisibach: Die Autorenschaft ändert sich. Man muss sich überlegen, wie man in Erscheinung treten will, ob man sich als Gruppe einen Namen gibt etc. Der Auftritt als Gruppe ist oft schwierig – zum Beispiel, wenn es darum geht, Fördergelder zu beanspruchen.
Was zeichnet denn das Künstlerkollektiv aus?
Vera Leisibach: Für mich sind das in erster Linie die flachen Hierarchien und die Rollen, die ständig neu verhandelt werden, wie in einer Waschtrommel.
Chris Regn: Es sind flexible Systeme, die durch Entscheidungen die Erscheinungsform und die Autorschaft festlegen. Aber Zusammenarbeiten geht ja auf sehr vielen verschiedenen Ebenen, das kann auch sehr lose sein und sich dann plötzlich verdichten.
Hat sich denn in der Art, wie Künstler zusammenarbeiten, in den letzten Jahren etwas verändert?
Chris Regn: Künstler sind heute bereit, in verschiedensten Gefügen aufzutauchen und sich wieder vermehrt selbst zu organisieren – weil sie sich nicht mehr auf bestehende Strukturen wie Kunstschulen und andere Institutionen verlassen können und wollen. Aber sie nutzen diese Strukturen natürlich. Und können heute Energien und Synergien viel besser nutzen als wir das früher konnten.
Im Kollektiv kann man sich Räume viel besser erobern als alleine.
Vera Leisibach: Bei uns geht es darum, sich mit Hilfe des Kollektivs selbst Räume und Möglichkeiten zu schaffen. Ich empfinde einen Drang, etwas zu machen. Wenn man am Anfang seiner Karriere steht, wo soll man da hin, wo kann man experimentieren, wo Erfahrungen sammeln? Im Kollektiv kann man sich Räume viel besser erobern als alleine.
Chris Regn: Genau. In der Stadt werden Freiräume immer weniger. Wir Künstlerinnen und Künstler sind gezwungen, uns die Stadt zurückzukaufen, wenn wir nicht verdrängt werden wollen – oder sie zu besetzen. Beides kann man nur kollektiv bewältigen.
Das hört sich sehr ernst, fast ein wenig bitter an.
Chris Regn: Ich habe in den 70er- und 80er-Jahren eine Zeit erlebt, in der man sehr verspielt und grosszügig mit Autorenschaft und Kollektiv umgehen konnte. Heute wird mit einer grossen Ernsthaftigkeit an den aktuellen Themen gearbeitet. Grabenkämpfe wie früher gibt es nur noch selten. Man ist generell sehr freundlich, verliert aber nie das Ziel aus den Augen.
Vera Leisibach: Das Spielerische ist mir beim Kollektiven auch heute sehr wichtig. Es macht Dynamiken möglich, es ist etwas Leichtes und Lockeres – aber es befolgt Regeln und stellt neue Logiken her.
Chris Regn: Genau, wie die Hamburger Künstlerin Durbahn sagt: «Mach dir Regeln, sonst machen dir andere welche.»
Dann geht es bei der Zusammenarbeit nicht in erster Linie um die Produktion von Kunst, sondern eher um den Rahmen ihrer Entstehung, um den Ort, den sie einnehmen kann?
Chris Regn: Es gibt einfach viel mehr Möglichkeiten, die Produktion zu formulieren, Werke zu zeigen, Dinge herzustellen, Diskurse zu führen …
Vera Leisibach: … laut zu denken …
Chris Regn: … und Vorgehensweisen zu erfinden, die für uns alle nützlich sind.
Das Gespräch führte Samuel Herzog. Es ist Teil einer Gesprächsreihe zum heutigen Kunstschaffen, die von Sabine Gebhardt Fink, Professorin an der Hochschule Luzern – Design & Kunst, kuratiert wurde.